Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
stand brüsk auf, schrie den Maler fast an und verließ mit einem lauten Ausruf das Café:
BELYJ RAJ! BELYJ RAJ!
Er liegt da und versucht nachzudenken, kann aber keinen klaren Gedanken fassen. Ist er in
Le Blanc?
Das Paradies ist ein weites, leeres Land. Auch die Pyrenäen seiner Erinnerung sind jetzt eine tiefverschneite biblische Landschaft. Hüfthoher Schnee, hoch wie Sommerweizen.
Gibt es hier Tage? Jedenfalls vergehen sie, ohne dass er einen Wechsel des Lichts wahrnimmt. Keiner zeigt sich, kein Arzt, kein Verhörbeamter. Nur eine blasse Krankenschwester huscht herein, bringt ihm Essen. Sein Hunger ist noch da, aber es ist nicht mehr das gierige Schlingen wie einst im Bienenstock. Er nimmt das Essen dankbar an und ist zu schüchtern, um sie anzusprechen, sie auszufragen.
Er hat es nie verstanden, mit Frauen zu reden, Komplimente zu machen, zu schmeicheln. Er schluckt leer, verhaspelt sich, schweigt beharrlich. Einem Zimmermädchen in Clamart hat er einmal ins verblüffte Gesicht gestammelt:
Ihre Hände sind so zart … wie Teller.
Und er wundert sich über die Mahlzeiten. Blasse Nudeln, weiße Sahnesauce, Schneeflocken aus Käse darübergestreut, weiße Krautstiele, weiße Hechtknödel, Blumenkohl, weißer Spargel, Sauce Béchamel, weißes Kalbfleisch, Frischkäse, wolkenhafte Milchsuppen, Milchreis. Weiße Erbsen. Und keine Karotte. Beim Ei hatten sie das Gelb entfernt.
Aber nein, das ist noch nicht alles. Eines Tages gibt es – aber gibt es hier Tage? – weiße Erdbeeren, diese zarte kleine Frucht, deren winzige Närbchen auf der weißen Fruchthaut er ungläubig betrachtet.
Ob er von seinem Bett aufstehen darf? Wohl nicht.
Er ist noch einmal in der Mitte der Welt, aber an deren Rand, in jener Welt, die er aus einem stillen Winkel der Rotonde beobachtet und in der er auf den spendablen Gast lauert, der ihm einen Café-crème spendieren wird. Das restliche Universum war bedeutungslos, die Welt war hier, es gab nur noch ein paar Straßenzüge und drei Cafés, wo sich das Allerwichtigste abspielte. Drei Tempel in diesem heiligen Bezirk, sie hießen Dôme und Rotonde und Coupole. Ein verzückter Chronist oder angetrunkener Evangelist lässt seine dröhnende Wahrheit hören, und Soutine spitzt die Ohren:
Wer einmal den Fuß in unser Café gesetzt hat, der ist für immer mit dem infiziert, was wir Maler die Pest von Montparnasse nennen. Nicht Syphilis oder sonst eine Krankheit, viel schlimmer: eine nicht zu bekämpfende seuchenartige Sehnsucht nach diesem Ort, der im Moment der interessanteste auf dem Erdball ist.
Ist kein Spender aufzutreiben, ist das nicht das Ende der Seligkeit. Er sieht jetzt Libion vor sich, den stumm gestikulierenden Wirt der Rotonde, der mit bebendem Schnurrbart hinter der Theke sitzt. Auch während des Ersten Krieges simulierte dieser Tempel kaffeeduftende Normalität. Soutine saugt ein paarmal rasch die Luft durch die Nasenlöcher ein. Ah, die Paradiese des Cafécrème! Mochten die andern von Chinarindenlikören, Mandarinen-Zitronen-Cocktails, von
Amer Picon
, Curaçao und Gin-Fizz schwärmen, Soutines Magen verlangt nur einen: den besänftigenden, schäumenden Milchkaffee. Man kann dort morgenlang hinter einer Tasse sitzen, die Leere umrühren, sich am Ofen wärmen. Libion, Libion! Zwar kommt manchmal ein halbes Dutzend Polizisten auf Fahrrädern her, sie umzingeln den Tempel und brüllen:
Razzia!
Die Rotonde ist die Hochburg der russischen Revolutionäre, kleines bolschewistisches Eiland, schmales Eldorado für Deserteure und Pazifisten, die nicht in den Schützengräben verröcheln wollen. Kriegsgegner sind als Defätisten gebrandmarkt, hier dürfen sie fluchen über den Krieg. Libion klebt ein paar patriotische Plakate auf die Wände, gleichsam als Impfung.
Doch es ist schon der nächste Krieg in der langen Reihe. Der Maler sieht sich noch einmal am Rand der Mitte der Welt, er ist irgendwohin unterwegs im Jahr 1943. Die große Zeit ist längst um, selbst diese Mitte ist voller Trauer, selbst die Mitte ist ein besetzter Ort in einem besetzten Land, und jeder Zweite, jeder weiß das, ist ein Spitzel oder ein nur nachlässig getarnter Gestapo-Mann. Paris scheint ihre bevorzugte Brutstätte zu sein.
Die Mitte ist nur noch ein Traum, in dem der Maler fehlt. Er ist unsichtbar geworden, die Gestapo-Leute können noch so lange in alle Winkel der Rotonde spähen. Soutine liegt jetzt im weißen Paradies und auch dort am Rand wie an seinem angestammten Ort in der Welt des
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