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Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Titel: Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Dutli
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der Welt schaffen können.
    Schließlich war es die Idee ihrer Verzweiflung, die das Falsche rät. Lannegrace hatte ihr beim Hinausgehen eine blütenweiße Krankenschwesterkluft in die zitternde Hand gedrückt. Die Muse der Surrealisten als verwirrte Krankenschwester. Im schlimmsten Fall könnte sie sich darauf hinausreden, sie habe als Schwester den kreideweißen, sichtbar geschwächten Patienten nach Paris zu begleiten, wo bereits ein Chirurg auf ihn wartete. Nicht in der Salpêtrière natürlich, die alte Schießpulverfabrik hinter der Gare d’Austerlitz war längst ein deutsches Hospital. Nein, in einer unscheinbaren Klinik im gutbürgerlichen 16. Stadtbezirk, wo auch die Besatzer ihre Dienststellen haben. Unter ihren Augen gleichsam, da ist man am besten versteckt. Es sei gerade kein Ambulanzfahrzeug verfügbar gewesen, würde sie sagen, es habe, jetzt im glühenden August, einen schweren Brand auf einem nahen Bauernhof gegeben und jedes Fahrzeug sei gebraucht worden. Die falschen Papiere würde sie in die Höhe heben wie die Fahrkarten zur Erlösung.
    Wenn alles gut geht, kommt ihr unbemerkt durch die Dörfer und Vorstädte hinein nach Paris. Vermeidet um jeden Preis alle wichtigen Einfallstraßen. Der schüchterne Arzt mit der Michelin-Karte und das blaue lachende, laufende Männchen. Sie mischen sich, verschmelzen mit den Pappelalleen.
    Ins Wasser für die Leichenwäsche muss ein Ei geschlagen werden. Die Chewra Kaddischa kennt den Weg. Die Bruderschaft ist vor Morgengrauen schon unterwegs. Auf dem Rand des blechernen verbeulten Beckens schlägt die Eischale auf, zögert und bricht. Die schützende Haut reißt ein, der Schleim des Lebens fällt ins Wasser, das Gelb fährt als trübes Glück hinein.

Ma-Be
    Es ist schwierig, die Augen zu öffnen. Wenn er es versucht, sieht er blinzelnd im Schattenlicht Marie-Berthe, die zusammengekrümmt auf einem Schemel sitzt, murmelnd, manchmal seufzend, ein Taschentuch vor ihre Lippen pressend. Sie scheint anderswo zu sein, aber das Elend hat sich tief in sie eingenistet. Schläft sie, spricht sie leise mit sich selber? Wie sehr sie sich verändert hat! Das Suchen neuer Verstecke, der Streit mit den Vermietern, die dauernde Angst, wenn Militärfahrzeuge durch den Ort brausen, der auf dem Weg nach Tours liegt, die zunehmende Schwierigkeit, noch die einfachsten Lebensmittel aufzutreiben – alles hatte sich in ihren Körper eingezeichnet, in jede Falte ihrer Haut, ins blaue Dunkel um die Augen.
    Es war im Café de Flore. Oktober, vielleicht November 40? Er war seit einem halben Jahr allein. Mademoiselle Garde war am 15. Mai jenes Jahres zur befohlenen Sammelstelle, der Winterradrennbahn, gegangen und nicht mehr wiedergekommen. Am Montparnasse raunt man, dass Tausende deutscher Einwanderer, mochten sie selber glücklose Flüchtlinge sein, als »feindliche Ausländer« in die Pyrenäen verfrachtet werden, ins Lager Gurs im Südwesten Frankreichs. Von einem ruppigen Besen zusammengekehrt wie fliegende, abgefallene Blätter. Fünf Tage zuvor hatte der deutsche Durchstoß in den Ardennen begonnen. Doktor Tennenbaum hatte also recht gehabt, als er es ihnen im
Hôtel de la Paix
am Boulevard Raspail beschwörend zuraunte:
    Fliehen Sie, solange noch Zeit ist! Hören Sie mir gut zu: Fliehen Sie!
    Der Maler kann nicht mehr an Garde denken ohne dieses drückende Schuldgefühl. Er sieht sie immerzu weggehen mit dem winzigen Lederköfferchen, sich noch einmal umdrehen, über die Schulter hinweg ihm zulächeln. Mademoiselle Garde! In einem Traum, der immer wiederkehrt, sieht er sie stumm auf seinem Bettrand sitzen, ohne Vorwurf, aber mit großen, fragenden Augen. Der Maler bleibt allein zurück, irrt wie eine verlorene Flunder durch die Straßen des Montparnasse-Viertels. Delambre, Grande Chaumière, Campagne Première, Passage d’Enfer. Jedesmal zuckt er zusammen, wenn er in die Höllenpassage einbiegt. Viele waren weggefahren.
    Er soll die Castaings im Café treffen, um die Lieferung eines Bildes zu besprechen. Maurice Sachs sitzt dort mit einer schwarzhaarigen Schönen, die er schon einmal irgendwo gesehen hat. Blitzende Augen, wie hieß sie nur? Madeleine Castaing selber stellt sie ihm vor: Marie-Berthe Aurenche. Und der amerikanische Maler, der dabeisitzt, raunt ihm ins Ohr:
    Du weißt schon, die Verflossene von Max Ernst.
    Später erfährt er, dass Maurice Sachs sich zu Madeleine Castaing hinübergeneigt und ihr mit zynischer Ironie Vorwürfe gemacht hat:
    Sie haben ihm

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