Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
weiß, vielleicht könnte man von ihm einmal Hilfe erwarten, warten wir’s ab.
Ma-Be wollte vor lauter Unglück ihm seines austreiben, ihn als ihr trauriges Malertier halten. Sie wollte auch ihm die Kreuze um den Hals hängen, sie faselte von der Erlösung, so wie sie früher den Surrealisten aus der Hand gelesen hatte. Und sie wollte die Erinnerung an einen Schutzengel verscheuchen, an seine Mademoiselle Garde mit ihrem hilflosen deutschen Akzent. Lass das Schuldgefühl, du bist ihr nichts mehr schuldig.
Was willst du, so sind die Zeiten.
Ma-Be sagte nur:
Dein Schutzengel ist interniert, er kommt nicht wieder. Und ein paar Monate später: Dein Schutzengel trägt einen gelben Stern, er könnte dir eh nicht helfen. Hier aber ist Paris, und du brauchst eine ohne Stern. Die Pyrenäen sind weit weg, aber ich bin da, und ich kann dich verstecken.
Sie überzeugte ihn, dass man in diesen verfluchten Zeiten immer einen Engel brauchte, dass sein Gesicht wechseln könne, seine Sprache. Ma-Bes Groll auf Max, seine Verzweiflung über die Besatzer und den Schmerz, der durch die Magenwand kam. Zwei Unglückliche, die sich gegenseitig fesseln, sich zu zweit vereint fühlen gegen die Welt. Die sich gegen beide verschworen hat. Das Elend der verlassenen Marie-Berthe verbündet sich rasch mit Soutines Angst und Schuldgefühl, es ist ihr zusammengerührtes Unglück, das stärker verbindet als Glück. Glück ist keine Lösung, und es gibt schon lange keins mehr in einer vom Gebrüll besetzten Stadt. Ein simples Bett gibt es noch und die Katastrophe der ganzen verdammten Welt. Er nimmt Ma-Be, wie er sie der Einfachheit halber nennt, mit in die Villa Seurat, wo es kalt ist, das Atelier ist nicht beheizbar. Sie sprechen nie mehr von Max.
Sie verkriechen sich in eine Höhle und wühlen ineinander, ihre Zungen verschlingen sich, ihre zitternden Beine, ihr trauriges Geschlecht peitscht das seine. Als ob sich damit das Unglück verscheuchen ließe, das sich in der Welt breit macht und höhnisch in ihren beiden Körpern zu nisten scheint. Sie liebten sich wütend und schluchzend. Vom Regal über ihnen löste sich am ersten Abend ein tönerner Topf, als sie auf den zerrupften Laken keuchend in sich vorstießen, in das grenzenlose Land gottverfluchten Elends.
Der Topf schlug neben ihnen auf den Fußboden, sie erschraken, als sie sich noch liebten, es schien, als ob er sie erschlagen wollte, bevor sie ans Ende kamen. Als sie nachher aufstanden und schweigend die billigen Tonscherben aufsammelten, ahnten beide klar, was es bedeutete. Montparnasse lag kaputt und zerschmettert hinter ihrem Rücken, es gab keine Hauptstadt der Malerei mehr, sie war von der Landkarte gelöscht, wo Dôme und Rotonde und Coupole wie rauchgeschwängerte Kathedralen einmal standen, war jetzt eine Wüste, eine Bombe hatte dort eingeschlagen und die Maler vertrieben. Der Sand rieselte herein in die Trichter und füllte sie mit seiner dumpfen tausendjährigen Unendlichkeit. Es kam ihnen vor, als seien sie die letzten, die den Einschlag überlebt hatten.
Und wie sie streiten konnte. Sie keifte, fauchte, sie schlug ihn, stritt über Geld, nannte ihn einen Geizhals. Sie war unberechenbar, ein rasches Reptil konnte jeden Moment aus ihr hervorbrechen. Er riss seine Augen auf und starrte voller Schreck auf das plötzlich entfesselte Tier.
Nein, er hat sie nicht gemalt. Doch, er hat sie gemalt. Marc Laloë hat das Bild gesehen, Weihnachten 42, als Olga und er das in Champigny versteckte Paar besuchen kamen. Und er stand fassungslos davor und stammelte nur: ein Meisterwerk. Eine Komposition aus Grün und Violett, dunkle Reptilfarben, Chamäleonhaut, auf dem Kleid der funkelnde Glanz von nie gesehenen Juwelen. Doch Ma-Be stritt heftig ab, dass die Figur ihr ähnlich sah. Sie fand sich viel zu sehr gealtert, ihre Züge monströs verzerrt, was hatte Soutine aus ihrem schönen Mund, aus ihrer feinen Nase gemacht? Die reine Verhöhnung verflossener Schönheit. Als er draußen war, nahm sie einen Pinsel und verbesserte ihr Gesicht.
Soutine stieß einen Schrei aus, als er den Schaden entdeckte, beklagte sich bitter bei Laloë:
Schauen Sie, was sie angestellt hat, das ist doch Wahnsinn …
Ohne zu zögern zerstörte er die Leinwand vor Laloës entsetzten Augen mit mehreren Messerhieben, keiner hätte ihn aufhalten können, das dunkelschöne Reptil war nicht zu retten, und Marie-Berthe versuchte danach vergeblich, die Leinwandstreifen zusammenzukleben … Eine Hinrichtung macht
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