Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Titel: Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Dutli
Vom Netzwerk:
fallen, bevor sich das Portal zur Irrenanstalt wieder schloss. Bunte Schmetterlinge des Montparnasse, vom Wahnsinn gerändert.
    Und jetzt saß sie ihm gegenüber im Café, ihr Gesicht zuckte nervös, sie log, sie sei fünfundzwanzig, und wusste, dass er wusste, dass sie log. Aber ihre Lüge war schön und voller Verzweiflung. Bleiches Wrack einer gebrochenen, kaputten Muse. Max hatte sie gezwungen, ihr Kind abzutreiben, gestand sie ihm später, es war die reine Metzgerei,
une boucherie
, die die Abtreiberin für ein paar Francs mit Stricknadeln auf dem Küchentisch anrichtete, sie hatte Monate gebraucht, um sich davon zu erholen. Einmal warf sie sich in die Seine, um zu sterben, doch das Wasser war bitterkalt, sie schwamm ans Ufer und wurde zähneklappernd von Passanten herausgezerrt. Sie verkleidete sich wieder, unmögliche jämmerliche Clownskostüme, versuchte die alten Nummern der faselnden Fee aufzuwärmen. Fragende Mädchenaugen und lächerliche Ponyfransen.
    Dem Maler gefiel ihr schluchzender Hass auf jene, die sie betrogen hatten, in ihrer Wut erkannte er seine. Die Surrealen hatte er nie gemocht, ihre Jünger in den Cafés palaverten von Befreiung, magischem Diktat, von irgendwelchen magnetischen Feldern, von der Zwangsjacke, die sie sprengen mussten. Welchen Unsinn haben die Rotonde und das Dôme sich anhören müssen! Wenn der rote Filz Ohren hätte, sich alles hätte merken können … Sie wollten nur den Traum und ihre trüben Spielchen.
    Er aber hasste Träume seit seiner Kindheit, nie gab es Trost in ihnen, sie ließen ihn am Morgen gekrümmt und zerschlagen zurück. Nie hatte er schöne Träume gehabt, er misstraute ihnen, den scheinheiligen Unglücksboten. Kosakenstiefel, die im Stechschritt durch sein Atelier hämmerten, glatte schwarze Lederhandschuhe, die zerfetzte Leinwände von der Staffelei rissen, laute Fanfaren, aus denen plötzlich geschossen wurde. Spanisch wurde gesprochen, Mussolinisch,
Gitlerdaitsch
. Eine Nacht ohne Träume war eine gute Nacht. Die Surrealen liebten das Chaos, aber ein Pogrom hatten sie nie gesehen, die Namen Berditschew, Schitomir, Nikolajew sagten ihnen nichts, sie genossen die Verachtung der
bourgeois
, aber sie hatten nie in die Wälder fliehen müssen, um die eigene Haut zu retten. Verwöhnte Bürgersöhne, die sich ein paar Portionen Anarchie gönnten. In Deutschland jubelten jetzt dunkle Massen vor einem brüllenden, sich verschluckenden Guignol-Kasper und rissen die Arme hoch. Als er hörte, er sei auch einmal ein Maler gewesen, wollte er ausspucken.
    Er musste die Leinwand strafen für die ungewollten Träume. Es war seine Haut, die er abrieb, ritzte, quälte. Rauh und schorfig. Er schlief schlecht, wälzte sich nächtelang wie ein Bär, fiel manchmal in einen groben Tiefschlaf, aus dem er nie wieder aufzutauchen schien. Breton hat er aus der Ferne gesehen, er schien ihm arrogant und überheblich, er wandte ihm den Rücken zu, um ihn nicht sehen zu müssen, starrte in den Aschenbecher. Sie verstanden ihn nicht, was sollten sie mit dem belorussischen Jid, der stumm war wie ein Fisch, verbissen krumme Landschaften malte. Stillleben! Porträts! Das ganze abgelegte Zeug. Max hieß ihr Gott mit den Insekten, Bäumen und Ungeheuern, den gerippten Steinen und grätigen Farnen. Dadamax, Schnabelmax, Loplop. Der Schwätzer, Verführer, Frauenbetörer, den er nicht einmal beneiden konnte. Er wollte nichts mit ihnen zu tun haben.
    Dann nahm er Marie-Berthe mit sich nach Hause, sie ließ es geschehen, sagte, sie wolle seine Bilder sehen. Ihre Wut und seine Bedrückung, ihr Elend und seine Verzweiflung über den Krieg und die Besatzer griffen ineinander, sie packten sich bei den Handgelenken. Sollte Mademoiselle Garde aus seinen Schuldträumen zurückkehren, er würde versuchen, es ihr zu erklären. Jetzt war Ma-Be plötzlich da, eine verirrte verrückte Fee, eine furiose Katholikin, wie man es im Milieu ihrer Kindheit war, sie hängte sich goldene Kreuzchen um den Hals, die sie zur ersten Kommunion bekommen hatte, als müsste sie die untreuen Surrealen damit bestrafen, dass sie zum Glauben ihrer Herkunft zurückkehrte, den alle verachtet hatten. Max hatte die Muttergottes gemalt, wie sie das Jesuskind übers Knie legt und mit der Hand ausholt, um seine geröteten Hinterbacken zu klatschen. Breton, Eluard und Max schauen aus der Fensternische zu. Außerdem war ihr Vater irgendein solider französischer Beamter, munkelte man, Verkehrssteuereinnehmer im Ruhestand, und wer

Weitere Kostenlose Bücher