Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
Marie-Berthe vorgestellt, wie unvorsichtig! Sie haben sein Todesurteil unterzeichnet.
Sie gilt als eine der halbverrückten Musen, nach denen die Surrealisten gierig waren. Jetzt ist sie vierunddreißig, hat dieses schöne traurige, milchige Gesicht und scheint grenzenlos unglücklich … Er weiß, dass sie neun Jahre mit dem deutschen Maler verheiratet war, am Montparnasse kennt jeder jeden, und was man über den einen oder den anderen nicht weiß, ergänzt das allgegenwärtige Gerücht. Sie sei aus einem Mädchenpensionat, das von strengen Nonnen geführt wurde, nach Paris gekommen, voller Lebenshunger, Lust auf Abenteuer. Rosenkranz und rasende Liebe. Es wird gemunkelt, Man Ray habe sie mit achtzehn nackt photographiert. Und Max entführt sie, tatsächlich, er wird steckbrieflich gesucht, doch die erschrockenen Eltern Aurenche geben schließlich nach und willigen in die Heirat ein, im November 27. Neun Jahre später bleibt ihr nur die wahnsinnige unheilbare Wut, die sie noch mit Max verbindet.
Bis Herbst 36 war sie seine Frau gewesen, als er in London Leonora kennenlernte, dieses schöne kleine Biest, in das sich Max sofort verliebte. Ma-Be hasste sie, noch bevor sie sie sah. Ihren Platz überließ sie nicht leichtfertig einer jungen malenden
bourgeoise
mit dem Namen Carrington, die aufkreuzte, als Max sich gerade nach einer frischen Muse umsah. Er brauchte sie, verbrauchte sie schneller, als er sie malen konnte.
Der Dreckskerl,
le salaud!
hat sie später im Dôme gefaucht, als sie ihm alles erzählte, und Soutine erschrak vor der Wut, mit der sie Max verfluchte. Sie zitterte, es war, als wollte sie gleich die Tassen greifen und an die Wand schleudern. Und sie erzählte hastig, ohne auf ihn zu achten, sie musste es nur hervorwürgen, ihr tiefes, wutgepeitschtes Elend. Max war mit seiner englischen Eroberung in die Ardèche abgehauen, einmal hatte die gedemütigte Marie-Berthe die Liebenden in ihrem Nest in Saint-Martin d’Ardèche aufgespürt, sie kannte die Gegend gut, ihre Familie kam von dort. Sie tauchte bei der Wirtin Fanfan auf, trank in der lauten Kneipe, fauchte, flehte und flennte. Max war noch einmal zurückgekehrt zu ihr, den ganzen Winter 37/38 war er bei Ma-Be in Paris, ließ seine
Anglaise
dort unten in der Ardèche allein. Leonora wälzte sich die Qualen der Eifersucht und der Verlassenheit von der Seele, schrieb halb von Sinnen ihren
Little Francis
, ließ Ma-Be als Amelia auftreten, die ihr, der Schönen, mit einem Hammer den Pferdekopf zertrümmert. Ma-Be hatte sie unter einem Vorwand nach Paris gelockt, wo sich die Rivalinnen in die Haare gerieten, sich schlugen und kratzten wie verrückt gewordene Katzen. Er gehört mir, hast du denn noch immer nicht verstanden? Max ließ es gnädig geschehen und ging im Frühling 38 zu seiner schönen Engländerin zurück in die Ardèche. Ma-Be hatte den Kampf endgültig verloren.
Der Schemel rutscht, ihr fettiges Haar fällt ihr in Strähnen über die Augen, die manchmal zufallen, die Lippen bewegen sich ohne Laut. Soutine sieht es durch den Vorhang der Wimpern, er kann nichts tun für sie, schlummert fort, gewiegt vom wattigen Morphin. Es ist schwierig, die Augen zu öffnen.
Jetzt saß sie so verloren vor ihm, dass er sie hätte malen wollen. Unglückliche Frauen und Kinder ließen ihn zusammenzucken, er erkannte sich in ihnen wieder, da war etwas, was auf ihn übersprang, und war ihr Unglück erst mit dem Daumenballen auf die Leinwand gerieben, war es ungreifbar seins. Aber Ma-Be. Die Surrealen hatten ihre Musen benutzt und weggeworfen wie schmutzige Strümpfe. Unberechenbar, halbverrückt mussten sie sein, Unordnung verbreitend, für ein paar Cocktails zu haben, billige rasende Musen. Er wusste noch, was man sich in den Cafés zuraunte. Bretons Roman mit einer Geistesgestörten fachte alle Phantasien an, seine Nadja, seine schöne Irre! Er faselte laut von ihrer Reinheit, eine Kindfrau, unschuldig und verrucht zugleich, den Papst der Surrealisten elektrisierende Windsbraut. Ma-Be war nur eine aus der Herde, und sie spielte ihre Rolle gern, die flatternde Nähe zum Wahnsinn, die hysterischen Ausbrüche, grellen Kleider, bösen Späße. Sie las ihnen aus der Hand, murmelte Unverständliches, vernebelte den Dadamaxen den Kopf. Dass sie manchmal verzweifelt war und nicht mehr weiterwusste, dass Momente grenzenloser Traurigkeit sie heimsuchten, interessierte keinen.
Sei schön und halt den Mund,
sois belle et tais-toi!
Aber Breton ließ seine Nadja
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