Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
war tabu.
Findet hier eine Verschwörung gegen Doktor Bog statt? Wollen die Kinder dem Maler Chaim Soutine nahelegen, das Malverbot nicht zu beachten? Er lacht innerlich auf, nie hätte er sich das ausmalen können. Doch sie schauen ihn streng an. Dann steht der Page aus dem Maxim’s auf, nimmt ihn bei der Hand und führt ihn zur Tür. Der kleine knallrote Groom.
Du musst jetzt gehen, wir müssen beraten. Wir melden uns, wenn es nötig ist.
War es das schon, keine Vorwürfe, kein Verhör? Nur dieser stumme Auftritt vor der Kommission, die Prüfung durch deren Augen, die ausdrückliche Aufforderung, ein Verbot nicht zu beachten?
Der Maler dreht sich noch einmal um und umfängt das ganze Verschwörerkomitee oder Kindergericht mit seinem Blick. Dann schließt er leise die Tür hinter sich. Doch eine verzwickte kleine Neugier packt ihn plötzlich. Er will an der Tür lauschen, um zu hören, was die Versammlung zu beraten hat. Und drückt sein Ohr gegen die weiße vorgewölbte Tür.
Die Stimmen sind schwierig zu unterscheiden, die eine geht in die andere über, sie überlagern sich, sprechen gleichzeitig, verstummen plötzlich. Spricht der Konditorjunge, der Page, einer der beiden Fürsorgezöglinge, die Erstkommunikantin?
Aus den Einwürfen und Wortmeldungen war nichts Zusammenhängendes zu erfahren. Einmal war von Gleisen die Rede, die zu Orten mit polnischen Namen führen. Dann wieder sprechen sie von der Klinik, von irgendwelchen Vorgängen, die sich hier abspielen. Fragen hört er heraus, die von Schweigesekunden gefolgt werden.
Weiß Doktor Bog Bescheid, was meint ihr?
Kann man ihm trauen? Wir sollten uns vor ihm in Acht nehmen.
Warum tut er so etwas? Oder tut er überhaupt etwas? Ich habe ihn seit Wochen nicht mehr gesehen. Er versteckt sich hier irgendwo.
Dann ist eindeutig Charlots dünne zittrige Stimme zu hören, die für diesmal bestimmt und vorwurfsvoll klingt, doch dessen ersten Satz der Maler überhört haben muss:
Bei diesem unerträglichen Übermaß … an möglichem Schmerz und Leiden? Wenn er allwissend ist, weiß er auch davon, von allen, die den Schmerz kennen, die er zum Schweigen, zum Schreien bringt. Wenn er allmächtig ist, hätte er ebenso leicht das schmerzfreie Leben erschaffen können. Es wäre die bessere Option gewesen. Was er getan hätte, wenn er gut wäre. Er aber arbeitet den Peinigern in die Hände, er hat ihnen unendliche Möglichkeiten geschenkt, ihr Werk zu tun. All die zarten Schleimhäute, Trommelfelle, Nagelbetten, Brustwarzen, seidigen Hoden, die ganze, den Menschen umhüllende, empfindliche Haut. Lauter ausgesuchte Einfallstore für den Schmerz. In den Kellern der Rue Lauriston jubeln sie jeden Tag über seine rückhaltlose Unterstützung. Er hat die Gestapo reich beschenkt. Er hat Barbie die Beethovenplatten aufgelegt.
Einer der beiden blauen Fürsorgezöglinge war jetzt zu hören, er muss aufgestanden sein, das Geräusch des Stuhls war seine kleine Ouvertüre:
Der Alleserschaffer hat auch bestimmt dafür noch ein Patent. Wenn er den Schmerz nicht selber geschaffen hat, warum lässt er ihn zu? Und habt ihr an das Leiden der Tiere gedacht, die Schlachthöfe, die erstickende plötzliche Enge, die furchtbare Angst vor Klinge und Bolzen, die zerberstenden Knochen, die abgezogene Haut, die zerfetzten Felle? Er müsste erschrecken über den endlosen Skandal, er müsste losschreien, erbrechen vor Ekel. Oder wenigstens verstummen vor lauter Grauen. Was er seit Ewigkeiten tut. Vielleicht aus Scham.
Der rote Messdiener räuspert sich, als wolle er gleich ein Weihnachtslied singen:
Einige meinen, dass wir ein gewisses Maß an Leiden brauchen, um es überhaupt schätzen zu können, wenn wir schmerzfrei sind … oder sogar glücklich …
Charlot wirft ein:
Aber wir brauchen gar nicht so viel, wie wir haben. Wir haben für alle Zeiten ausgesorgt.
Ein kleiner Verschwörer schlägt mit der Faust auf den Tisch:
Sind wieder die Glücksschwämme unterwegs, gehen sie von Saal zu Saal? Sie geben barmherzige Spritzen, die dich beruhigen sollen, du kriegst Wattebäusche in die Ohren und Nasen, die sie in irgendeine Flüssigkeit getaucht haben, sie verstopfen dir den Mund mit milden Argumenten und besänftigenden Gesängen. Sie füttern dich mit dem Leben, das du nach der Operation einmal haben sollst.
Der Kochlehrling winkt ab, der Maler glaubt seine wegwerfende Geste durch die Tür sehen zu können:
Es ist viel besser anzunehmen, dass es gar keinen Doktor Bog gibt. Und wenn
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