Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
fehlt ihm nicht, und es fehlt ihm die Einsicht, ihn für etwas Wertvolles zu halten. Aber es fehlt ihm an Seligkeit. Es gibt im weißen Paradies der Schmerzfreiheit nichts mehr zu tun. Er fühlt sich überflüssig. Alles war erledigt, die Operation hat stattgefunden oder nicht stattgefunden, jedenfalls ist er das prächtige Ergebnis einer endgültigen Heilung. Er versteht nicht, was
French Triple
bedeutet. Er murmelt vor sich hin:
Alles ist vorbei.
Und er erschrickt über diesen Satz. Wenn alles vorbei ist, muss etwas geschehen. Der Maler beschließt, das gänzliche Verstummen der Geräusche abzuwarten, aber als sie trotz Ebbe nicht völlig nachlassen, schlägt er behutsam das gletscherweiße Laken zurück und stellt sich vorsichtig hin. Er hatte erwartet einzuknicken, aber nichts dergleichen geschieht. Er weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, weiß nicht mehr, wann er zum letzten Mal gegangen war. Sein Schritttempo hatte immer der Schmerz bestimmt, vor ihm war er weggelaufen, hatte sich angetrieben, ihm zu entfliehen.
Jetzt setzt er einen Fuß vor den andern und ist erstaunt, wie leicht das geht, wie wenig er seine Beine spürt. Er geht verwundert zwei, drei Schritte weg von seinem Bett, aufrecht und nicht gekrümmt, geht dann entschlossen zur Tür und öffnet sie leise. Sein Kopf schiebt sich hinaus, dreht sich nach links, dann nach rechts. Die Geräusche sind noch da. Er bereitet unwillkürlich eine Ausrede vor, aber es ist niemand auf dem ganzen langen Flur, dem er sie hätte vorbringen können. Die Geräusche, die einen gesprächigen Fluss simulierten, stammen von keinerlei sichtbaren Menschen. Sie mussten über Lautsprecher in die Gänge übertragen werden, aber wozu? Klinikgeräusche, friedlich, ohne Dramatik.
Der Maler wundert sich, aber die Tonbandgeräusche verursachen keine Beunruhigung. Seine Gelassenheit ist unerschütterlich. Er wendet den Kopf noch einmal nach links und nach rechts und geht nach links los. Langsam, bedachtsam geht er, er sieht sich gehen, aber es gibt keinen Schmerz mehr, dem er davonlaufen müsste.
Er geht bis zum Ende des Flurs, ohne die Füße nachzuziehen, ohne das Schlurfgeräusch der Kranken und Müden. Keiner kommt ihm entgegen, links und rechts folgen nur weiße Türen, die sich leicht vorwölben wie die Türen von behäbigen, teilnahmslosen Kühlschränken. Am Ende des Flurs ist endlich ein Fenster. Er schaut hinaus, traut sich aber nicht, das Fenster zu öffnen. Und er weiß im gleichen Augenblick, dass es gar nicht möglich wäre, sie zu öffnen. Es ist eine Gewissheit, ohne dass er seine Hand zur Prüfung ausschicken müsste.
Offenbar ist es Nacht draußen, eine weiße Nacht. Scheinwerfer, die weißes, grelles Licht verschicken, sind auf nichts gerichtet, jedenfalls gibt es nichts, was er als Ziel für das Licht hätte ausmachen können. Die Lichtstrahlen kreuzen sich gleichgültig, gehen weg in ein sinnloses Hintergrundschwarz, kein mattes Schwarz, sondern Feldgrau, ja, Feldgrau, am beschränkten Horizont.
Nur etwas verblüfft ihn. Es schneit leicht und dicht, die weißen Flocken taumeln sanft in die Scheinwerfer, ohne sie wirklich zu verdunkeln, sie fallen nur hinein und weiter hinunter, wo sich bereits eine dichte Decke gebildet hat.
Er steht eine Weile am Fenster und sieht diesem ruhigen Schneefall zu, er haucht das Wort »Minsk« gegen das Glas, versucht mit den Augen die Schneeflocken zu verfolgen. Er wiegt sich in ihrer Ruhe, in einer Anwandlung von schneegleich sinnlosem Genuss, blickt in die Scheinwerfer und erinnert sich an die Lichter des Leichenwagens, die spätabends in die leere Landschaft gestarrt hatten.
Wo war er am Morgen losgefahren? War es noch immer der gleiche Tag? Er will sich an den Namen eines bestimmten Ortes erinnern, doch er fällt ihm nicht ein.
Château
stammelt er, Schloss, und nochmals Schloss. Der Name Jeanne d’Arc kommt ihm in den Sinn. Was hat er dort zu suchen? Er weiß nur mit Bestimmtheit, dass es Sommer gewesen war, August, ganz bestimmt August.
Er gibt es auf, nach Namen zu suchen, wendet sich nach links und geht langsam die Treppe hoch, das schmerzfreie Voreinandersetzen der Schritte bereitet ihm nun bereits ein leichtes Vergnügen, eine leise Verwunderung. Selbst das Steigen bringt keine Beschwerden. Im Stockwerk darüber findet er wieder einen endlos scheinenden Flur, der aber weniger erleuchtet ist als der, aus dem er kommt. Wieder stellt er sich ans Fenster, versucht in der Weite einen Horizont auszumachen, eine
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