Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
Häuserzeile, einen Wohnturm, irgendein Merkmal, das Stadt hätte bedeuten können. Aber der helle Schneevorhang und die Scheinwerferkegel versperren ihm alle Sicht. Und es war doch August gewesen …
Plötzlich ein klickendes Geräusch hinter ihm auf dem Flur, aber noch in einiger Entfernung. Er duckt sich in das Treppenhaus, in dem seine weißen Socken ohne Pantoffeln schimmern. Er bleibt eine Weile stehen, horcht noch einmal auf das schwindende Geräusch, geht ins untere Stockwerk zurück und versucht, sein Zimmer wiederzufinden. Erst jetzt stellt er fest, dass auf den Türen keine Ziffern stehen, und er ist leicht beunruhigt, weil er befürchtet, er könnte sein Zimmer nicht mehr wiederfinden. Sein innerer Schrittzähler hat ungefähr die Entfernung bis zum Fenster gemessen, jetzt geht er in die umgekehrte Richtung und bleibt vor einem Zimmer stehen. Das könnte es sein.
Er öffnet die Tür mit konzentrierter Vorsicht, um nur ja keinen Patienten aufzuwecken oder kein Pflegepersonal auf seinen unerlaubten Ausflug aufmerksam zu machen. Nichts kann er in dem Zimmer wahrnehmen, kein Atemgeräusch, kein leises Stöhnen, kein Krankenschnarchen, das die verabreichten postoperativen Beruhigungsmittel verursacht hätten. Er will schon die Tür wieder schließen, da sticht ihn eine kleine Neugier.
Er ertastet einen Lichtschalter, drückt darauf, erschrickt vom weißen Lichtblitz, aber auch von dem, was er vorfindet. Das Zimmer ist leer. Kein Bett, kein Waschtisch, keinerlei Tücher oder Laken. Die weiße absolute Leere. Ein Kubus im Nichts, aus Nichts. Sein Blick fällt auf den Boden. Doch, da liegt etwas, nur etwas Kleines liegt in der Mitte des weißen, spiegelblanken Bodens. Es ist eine Kinderpuppe, und er weiß sofort, woher sie kommt. Er blickt auf sie herab. Da sieht er, dass ihre Schultergelenke ausgerenkt sind, beide. Die Arme sind völlig nach außen verdreht. Die Hüftgelenke scheinen noch in den Knochenpfannen zu liegen, aber das eine Knie liegt bloß.
Ja, die Gelenke, die zarten Verbindungen unserer Verletzlichkeit.
Ein Unterschenkel ist abgetrennt, liegt einen halben Meter weiter weg. Wer mag der Puppe die Verletzungen zugefügt haben? Es ist, als ob sie gefoltert worden wäre. Wer sollte in dieser Klinik solche Dinge tun? In einem völlig leeren, weißen Kubus. Er will sich leise zurückziehen, seine Hand liegt schon auf der Türklinke, da schlägt die Puppe ihre Augen auf und schaut ihn an, nicht flehend, nicht fragend, nein, streng musternd. Und er bemerkt ihr greisenhaftes, von Runzeln durchzogenes Gesicht. Der Maler hält den Blick der Puppe nicht aus, dreht sich ab und schließt sacht die Tür.
Er geht rückwärts. Das Zimmer gleich daneben muss seines sein, er greift nach der weißen Türklinke. Er hat sich getäuscht. Auch dieses Zimmer ist leer und fensterlos. Auf dem Fußboden liegt ein abgegriffenes, zerfleddertes Buch. Er tritt darauf zu und schlägt es an irgendeiner Stelle auf, als sei es sein Orakel:
Unwürdig der Güte … unfähig zur Dankbarkeit … zur Liebe außerstande … durchlöchert bis auf den Grund der Nieren … zerfetzter Palmenstamm … essigsaurer Wein … besudeltes Bild … verbranntes Kleid … verlorener Kristall … gesunkenes Schiff … zertretene Perle … in die Fluten geworfener Edelstein … verwelkte Mandragore … Öl auf Unrat … Milch auf Asche … bin ich zum Tode verurteilt … inmitten der Herde der Gerechten …
Was war das? Das Titelblatt fehlt, es war hastig und grob herausgerissen worden. Es erinnert ihn an etwas, was einer der Schwätzer, die wie lästige Trabanten um den Montparnasse kreisten, einmal in der Rotonde posaunt hat. Es klang sehr ähnlich, stammte von irgendeinem tausendjährigen armenischen Mönch, es hieß Buch der Klage oder ähnlich. Aber weder an den Namen des Mönchs noch an jenen des Schwätzers erinnert er sich, da ist nur eine Abkürzung, die ihm geblieben ist, sie nannten ihn MGM.
Das nächste Zimmer ist seins. Er findet seine vorsichtig zurückgeschlagene Bettdecke und seine Pantoffeln, sorgfältig unter das weiße Metall der Bettfüße geschoben. Sein Ausflug genügt ihm für diesmal, er sinkt in sein Bett und schläft fast im selben Moment ein.
Wie lange er geschlafen hat, weiß er nicht. Er hatte schon bemerkt, dass es in der Klinik keine Uhren gab, und selber hatte er nie eine getragen. Beim Kampf mit der Leinwand muss das Handgelenk frei sein, zurückschnellen können, zittern, schrammen und schraffen. Er hebt das
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