Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
Unglückliche wird großzügig in Ruhe gelassen. Er wird unberührbar, verstehen Sie? Wie ein zu starker Körpergeruch schützt ihn das prächtige Vorurteil. Der unglückliche Soutine! Der ganze Montparnasse seufzt. Entsetzliche Kindheit, bestürzende Armut, zerstörerischer Hass auf die eigenen Bilder, zermürbende Magengeschwüre, eingefleischte Schüchternheit, absolute Verlorenheit. Und schließlich setzen ihm die Besatzer und ihre Gehilfen nach. Versteckt in einem Leichenwagen!
Oder er war der Vorletzte auf der Skala des Elends, wie immer: der zehnte von elf. Der Maler der heillosen Menschheit, sagten sie, der Erniedrigten und Gedemütigten, sagten sie, des Hungers, sagten sie, der gemarterten Tiere. Die gekreuzigten Truthähne, die aufgehängten Hasen, denen man das Fell schon abgezogen hat oder gleich abziehen wird – alles immer er selber, sagten sie. Wahrscheinlich haben sie ihn auch noch für das blutübergossene Ochsengerippe gehalten.
Der farbig schillernde Tod hat ihn zum Augenzeugen berufen. Der Tod will nicht unsichtbar sterben. Der Tod ist Triumph, und er hat ein herrliches Gefieder! Das Huhn mit dem blauen Hals, die dunklen Masern der Wachtel. Der Tod war anspruchsvoll, er wollte sich farbig malen lassen. Das Unglück, ja, aber in einem verwirrenden, keuchenden Jubel der Netzhaut. Sie haben ihn übersehen. Er war unsichtbar. Und wollte es bleiben.
Andrée, eine malende Trabantin des Planeten Montparnasse, hat ihn einmal direkt gefragt mit ihrer hellen Stimme, sie war die einzige, die es je wagte:
Sind Sie sehr unglücklich gewesen, Soutine?
Er war verblüfft über die Frage, verstand sie erst nicht. Aber er erinnert sich noch im Leichenwagen und in den Laken des weißen Paradieses an seine Antwort:
Nein! Ich bin immer ein glücklicher Mensch gewesen!
Und sie behauptet, sein Gesicht habe vor stolzer Freude gestrahlt.
Er sucht in seiner Erinnerung nach dem richtigen Glück. Ob richtiges Glück oder nichtiges Glück – es ist alles Eins. Aber es war da, hat seine Spur hinterlassen. Das war das Wichtigste. Der Ausbruch aus Smilowitschi war geglückt, die Ankunft in Wilna im nächtlichen Gaslicht, die Fahrt in die leuchtende Welthauptstadt der Malerei. Zehn Jahre Hering, Kohlabfälle und bitterer Hunger. Aber dann der Eintritt des Pharmazeutengottes Barnes, wer hätte das geahnt, der täuschend echt simulierte Wohlstand, die exquisite eigene Mischung von Clochard- und Luxusleben, die Hüte von Barclay, der Chauffeur Daneyrolles, die Sommermonate in Le Blanc bei Zborowski und in Lèves bei den Castaings, die jedes seiner Bilder bebend erwarteten und fürstlich bezahlten, als die Krise 1929 Zbo ruiniert hatte.
Sie waren verrückt nach seinen Bildern, nahmen sie in ihr prachtvolles Haus in Lèves auf, würdigten sie als ihre wichtigsten Gäste. Dieses stumme, sich verleugnende Warten der Castaings erregte ihn. Die Welt schien auf ein Bild zu warten. Auf ein nichtiges Glück. Und er tat, als ob er zweifelte, je wieder eines schaffen zu können. Er setzte den letzten Pinselstrich jedes Mal zum letzten Mal. Er liebte diese bürgerliche Komödie. In den Sommermonaten lebte er dort gehätschelt im Schoß der prächtigen französischen Bourgeoisie, die er neugierig beobachtete und charmant fand mit ihren Ticks und Ritualen. Der Salon, Erik Saties weiße Musik, das Klirren der Champagnerkelche. Am Flügel hängt noch der Regenschirm, den Satie 1924 vergessen hatte.
Das Abendessen ist angerichtet!
Sollte er diesen Satz im Leichenwagen gehört haben? Man ruft ihn höflich zum Dîner, er zieht sich einen richtigen Anzug an, aber selbst im farbbespritzten Blaumann fühlt er sich respektiert und willkommen. Wenn ganz Smilowitschi das Schauspiel sehen könnte! Nur die Bediensteten beäugen ihn misstrauisch, wenn er sie malen will. Und er interessiert sich auffällig für sie. Die Köchin, der Diener. Nichts gleicht hier seiner Kindheit, der französische Sommer hat sie gelöscht.
Henry Miller schreibt: Soutine ist weniger wild jetzt, er malt sogar lebendige Tiere! Kein Blut mehr, nur noch Traurigkeit.
Und lesende Frauen, hingegossen ins Gras, von ihren Büchern gefesselt, mit aufgerissenen Augen auf die Seiten starrend. Und die taumelnde Kathedrale von Chartres. Er ist endlich angekommen, das Licht der Landschaft hat ihn in die Arme genommen und sanft gezaust. Der Erdrutsch von Céret ist angehalten.
Er aber vergisst keine Sekunde lang, wo er ist, stürzt sich noch immer auf die Zeitungen, um zu
Weitere Kostenlose Bücher