Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Titel: Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Dutli
Vom Netzwerk:
Laken an, betastet seinen Oberbauch. Noch immer kein Schmerz. Früher war er immer wiedergekommen, auf ihn war Verlass, mochte er eine Weile noch so launisch geschwiegen haben: Er kam wieder. Jetzt ist seine Abwesenheit beinah dröhnend in seinem weißen Bauch.
    Er nahm sich vor, seine Erkundungsgänge fortzusetzen, wartet wieder eine künstliche Geräusch-Ebbe auf dem Flur ab, geht hinaus und schleicht ins obere Stockwerk. Er drückt eine Türklinke, schiebt sacht einen Fuß vor und schreckt zurück. In diesem Zimmer wird er erwartet.
    Im Kreis, auf niedrigen Stühlen, sitzt eine Art Kommission oder Abordnung, das ist sein erster Gedanke. Die wartenden Gesichter nehmen ihn sofort in den Blick und lassen ihn nicht mehr los. Diesmal kann er nicht zurückweichen, er fühlt sich ertappt, er muss ins Zimmer treten. Da sitzen sie alle, er erkennt sie sofort.
    Seine kleine Herde der Unbeachteten, der Dienenden, der in ihrer Würde Gekränkten, der über das eigene Vorhandensein Erschrockenen. Er hatte sie gemalt, als seien sie Pharaonen, Fürsten, Würdenträger, aber mit traurig beladenen Blicken, verschlungenen Handknäueln tiefer Verlegenheit. Gebeugt, geprüft und dennoch aufrecht.
    Der Konditorjunge aus Céret mit dem übergroßen rechten Ohr und dem roten Taschentuch um die linke Hand, das leuchtet wie eine blutdurchtränkte Flagge. Sein kleiner Kollege mit dem verschmitzten Ausdruck und der schrägen Augenwaage, der Page von Maxim’s, der Groom, der Kochlehrling, der Metzgerjunge, die Erstkommunikantin, die wie eine kleine Braut aussah. Der Dorftrottel, das Bauernmädchen, der Junge in Blau, der weiße Chorknabe, der rote Messdiener, die Kinder mit den Greisengesichtern, die kleinen Mädchen mit den verkrüppelten Spielpuppen in ihren Händen, als trügen sie zarte kleine Leichen. Der kleine Charlot mit seiner spitzen Nase, Marcel, der demütig dreinblickende Schüler im blauen Kittel, die beiden kahlgeschorenen Fürsorgezöglinge, wie immer Hand in Hand. Nie hat er andere Patienten bei seinen Gängen durch die Flure getroffen, hier nun ist plötzlich das ganze Zimmer bunt bevölkert.
    Die Erstkommunikantin rafft ihr weißes, bis auf den Fußboden reichendes Kleid mit zwei behandschuhten Pfötchen hoch, steht auf und spricht ihn mit dünnem, aber strengem Sopränchen an:
    Bitte eintreten. Wir wissen Bescheid, dass du hier in der Klinik bist. Du bist geheilt, wir wissen auch das. Und Doktor Bog hat dir verboten zu malen, wir haben es erfahren. Komm näher.
    Der Maler zögert. Kinder und Jugendliche machen ihn verlegen, er fürchtet, dass sie in ihm einen der ihren erkennen oder einen, den er längst abgelegt glaubt. Das Kind von Smilowitschi. Kinder zeigten diesen strengen prüfenden Blick, es war schwierig, sie länger posieren zu lassen, also musste es schnell gehen, rasch den Blick einfangen, die schrägen Augen, die verschlungenen Hände, die Haltung der Schultern, linkisch und selbstsicher zugleich.
    Wie nur kommen sie hierher? Sind sie krank, wurden sie hier operiert, gepflegt, versorgt? Sie sehen erstaunlich unverändert aus, verblüffend gut erhalten, genau so, wie er sie damals in Céret, in Civry oder Champigny gemalt hat.
    Hier saß eine ernst blickende strenge Kommission, die ihm irgend etwas mitteilen wollte. Oder ist es ein Hohes Gericht? Wollen sie ihn anklagen, weil er ihre verletzte Würde und Lebenswahrheit hatte einfangen wollen? Hat er sie zu lange posieren lassen, bis ihre kindlichen Glieder schmerzten? Hat er sie mit seiner Palette belogen? Der Maler schweigt und wartet ab. Die Zeit verrinnt, sie schauen streng auf ihn, wie um ihn zu prüfen, und er sagt nichts.
    Dann fällt eine Holzpuppe zu Boden, das Geräusch nimmt die Runde ohne Blick auf die leblose Puppe wahr, keiner senkt den Blick.
    Wir kennen Doktor Bog, sagt plötzlich der Konditorjunge mit dem großen Ohr und dem roten Taschentuch. Er lässt es durch seine Hände wandern, winkt und wedelt damit, wie um seine Verlegenheit zu verscheuchen.
    Lass dich von ihm nicht beeindrucken. Seine Gebote sind nicht in Stein gemeißelt. Tu, was du tun musst, wenn du nicht anders kannst.
    Der Maler wundert sich, denn er erinnert sich an die drohende Bestimmtheit in der Stimme Doktor Bogs, als er ihm das Malen in der Klinik verbat. Und es ging nicht um Schmutz und Farbflecken, verdreckte Pinsel oder ölige Schlieren auf weißen Türen. Es ging nicht um Hygiene und Sauberkeit. Er sollte nie mehr eine Palette berühren, keinen Pinsel führen. Leinwand

Weitere Kostenlose Bücher