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Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Titel: Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Dutli
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verstehen, welche Bücher in einem nahen Land verbrannt, welche Bilder als entartet bezeichnet werden, welcher Krieg sich früh ankündigt. Der farbige Tod ist noch lange nicht ausgestanden. Aber er malt jetzt sogar lebendige Tiere. Und Charlot, dem er die Palette schenkte. Verlorene Kinder in Civry und Champigny, kleine, aus dem All gestürzte Meteoriten.
    Und als die Besatzer anrollen, ist es sein nichtiges Glück, dass er unsichtbar wird unter seinem blauen Hut. Dass der Stempel auf seinem Lichtbild verrutscht. Dass keiner den Stern auf seiner linken Brust sehen kann. Er ist nicht in die Falle der Winterradrennbahn gegangen. Sie suchen ihn, er bleibt verschwunden. Es war nur das nichtige Glück des Verschwindens. Und das Glück der falschen Papiere.
    Das Magengeschwür blieb, der Schmerz drückte dem immer unerwarteten Glück das Maul zu. Er hatte Angst, ein anderer zu werden, ein anderer geworden zu sein. Die alte Wunde muss offen bleiben. Verschwindet sie, erstickt sein Talent. Armut, Hunger und Hässlichkeit sind wunderbare Möglichkeiten. Die bloße Schönheit ruht in sich, sie nimmt ihm den Pinsel aus der Hand. Modiglianis Schönheiten, er kann sie nicht sehen. Sie ließen die Körper ein wenig leuchten wie Papierlaternen. Die Schönheit löscht sie aus.
    Spricht man in seiner Gegenwart von einer gerechteren Welt, wird er traurig. Der Maler liebt die Ungerechtigkeit, er sieht in ihr eine Chance. Die Gerechtigkeit erscheint ihm als eine armselige Göttin, die den Menschen kleiner machen will. Die geringste Chance ist ihm unendlich lieber. Alles ist ungerecht verteilt, verstehen Sie, alles. Gesundheit, Reichtum, Schönheit, Talent und Ruhm. Nur das Ungleiche inspiriert und beflügelt. Jeder Catch-Kampf ist ihm lieber als eine bessere Welt. Die karge Sehnsucht, das bittere Verlangen, der hoffnungslose Wunsch.
    Er hat Angst davor, ein anderer zu werden. Er wühlt sich in die alten Tücher der ersten Verletzungen, der schlimmsten Kränkung. Es kommt von dort. Du kommst von der Wunde her. Sie ist die Geburtsurkunde, der Pass fürs Leben. Du musst es hüten und bewahren, darfst es nicht vergeuden. Mit dem farbverschmutzten Daumen die Wunde offen halten. Die Narbe nicht schöner machen. Nichts desinfizieren. Mit demselben Daumen, den er sich beim Malen einmal ausgerenkt hat. Noch in Rembrandts Gemälden erkennt er den verzweifelten Daumen wieder. Auch er hat manchmal mit dem Finger gemalt.
    Und dann geschieht etwas, das er nicht vorausgesehen hat.
    Eine Hand legt sich auf seine Stirn. Er ist erstaunt und denkt zunächst an Marie-Berthe, aber es ist nicht ihre Hand. Jede Hand spricht anders, jede hat ihre eigene Schwere, ihre bestimmte, drückende Weichheit, jede Linie in ihr hat eine eigene Temperatur. Er hebt verwundert die Augen. Er erkennt sie sofort.
    Garde, was machst du hier im Wagen?
    Die Hand streicht ihm über die Stirn, einmal die sanften kühlenden Fingerkuppen, dann die wärmeren, eingezogenen Fingerrücken, ganz leicht einmal hin, einmal her. Sie beugt ihre lächelnden Lippen zu ihm hinunter.
    Lass, Lieber, frag nicht, bleib ruhig liegen. Du musst dorthin, du wirst erwartet, die Ärzte wissen Bescheid.
    Aber du bist doch in Gurs? Wie bist du freigekommen? Wie kommst du hier herein? Wer hat dich gerufen, wer hat Dir Bescheid gesagt, wer hat dich hereingelassen?
    Frag jetzt nicht, es hat keine Bedeutung mehr. Ich bin gekommen, das ist alles.
    Er hört die Antwort kaum, taucht ab in das wattige Gehäuse, wo er jetzt wohnt, wo seine betäubten Schmerzen wohnen.
    Er traf im Dôme eines Abends auf seinen Schutzengel. Er hatte sich nicht angemeldet. Es war im Oktober 37. Mit einem haarsträubenden deutschen Akzent stellte sie sich vor: Gerda Groth-Michaelis. Sie saß einfach da. Wie sie jetzt im Leichenwagen, der seinen Weg nach Paris sucht, neben ihm sitzt und leise gegen die Frontscheibe spricht. Aber mit wem?
    Ich heiße Gerda Michaelis. Ich wurde in Magdeburg geboren, wo mein Vater, der Jude war, einen Fell- und Lederhandel betrieb. In jenen Jahren wurde man unter deutschen Studenten im Nu Sozialistin, so leicht, wie man Surrealist wird, es war dasselbe Gefühl der Erregung. Doch wir merkten schon, dass es neben uns noch eine andere Jugend in Magdeburg gab. Im arbeitslosen Deutschland marschierten die Braunhemden. Nach der Machtergreifung kamen rasch die Rassegesetze. Als das Geschäft meines Vaters enteignet und arisiert wurde, wuchs die Angst in der Familie, ich fühlte mich dort nicht mehr sicher, wollte

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