Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
mein Land verlassen. Ich hatte eine Freundin, Charlotte, die bereits aus Deutschland geflüchtet war und in einem friedlichen Dorf in der Normandie bei Bauern wohnte. Ich reiste mit einem Köfferchen und fast ohne Geld. Die Zeit steht dort still, jeden Morgen haucht sie: Ich bin das, was ich schon gestern war. Nach drei Monaten war ich entmutigt von diesem Leben, das nach Stroh und Milch roch, beschloss, nach Paris zu fahren. Es musste dort eine Lösung geben. Eines Abends bestieg ich den Zug, ohne irgendwem Bescheid zu sagen. Schon am nächsten Tag saß ich in einem dieser Cafés am Montparnasse, wo viele Deutsche verkehrten, die es aus ihrem Land vertrieben hatte.
Mademoiselle Garde hat im Leichenwagen zu sprechen begonnen, doch er merkt rasch, dass sie nicht zu ihm spricht. Sie hatte ihn doch angesprochen, seine Stirn liebkost, sicher, doch dann sprach sie in Richtung Frontscheibe. In die Zukunft? Sie ist taub. Zu den Fahrern? Kaum. Sie suchten die Landschaft ab mit ihren Augen, immer bereit, beim Auftauchen militärischer Fahrzeuge in einen Seitenweg abzudrehen, hinter eine Scheune zu fahren, bis der Tross vorüber war. Ausweichen, nur nicht angehalten werden, aber sicher vorankommen. Einen Leichenwagen in der Landschaft durfte man nicht anhalten, dachten sie, er muss ans Ziel, der Tod mag keinen Aufschub. Das Sterben ging weiter, es hatte nichts Ungewöhnliches. Man starb in einem besetzten Land wie vorher, nur häufiger. Die Geiselerschießungen hatten zugenommen nach den Attentaten vom Sommer 41. Gefängnisinsassen wurden zu Geiseln erklärt, Massenerschießungen folgten, auf dem Richtplatz schrien sie mit verbundenen Augen:
Vive la France!
Guy Môquet war der jüngste, erst siebzehn, nach dem Attentat in Nantes am 22. Oktober 1941.
Die Briefe aus Deutschland, die ich von meiner Schwester Alice bekam, ließen nichts Gutes ahnen. Alice kam nach Paris, hatte ein paar Schmuckstücke unserer Mutter im Gepäck, die wir verkaufen konnten. Wir lebten von Tag zu Tag, aber wir lebten. Es war ein täglicher Kampf. Aber 1935 hatten wir so starke Sehnsucht nach unseren Eltern, dass wir nach Berlin fuhren, wohin es sie inzwischen verschlagen hatte. Ich war erschüttert von den vielen Fahnen mit dem Hitlerkreuz in Berlin, mein Vater war alt und krank und sah eine dunkle Zukunft kommen. Er fragte sich, ob er nicht in Japan Zuflucht suchen sollte. Mein Besuch brach abrupt ab. Ich wurde denunziert, bekam eine Vorladung bei der Gestapo, wo man mich anwies, das Territorium sofort zu verlassen. Ich erschrak sehr und stieg allein in den Zug nach Paris. Meine Eltern und meine beiden Schwestern habe ich nie wiedergesehen.
Garde! Ich bin es doch, Chaim, sprich mit mir! Mit wem sprichst du denn? Hörst du mich nicht mehr? Ich bin doch nicht tot. Du hast gerade eben mit mir gesprochen. Als du zur Winterradrennbahn gingst und nicht mehr wiederkamst, war ich verzweifelt, verstehst du. Ich habe dir ins Lager Gurs einen Brief geschrieben, wollte dir Geld schicken. Es kam keine Antwort, wahrscheinlich durftet ihr nicht schreiben. Ich wollte dich nicht verloren geben, habe in der Villa Seurat deine Kleider getragen, damit du zurückkommst, habe an deiner Seife gerochen, habe ein Haar von dir gefunden, bin deinem Geruch überallhin gefolgt, habe im Schrank nach dir gesucht, deinen Schal um den Hals gelegt mitten im Sommer. Manchmal sprach ich nur deinen Namen aus, rief ihn ins leere Atelier, und es war gut, auch nur deinen deutschen Namen zu rufen, den ich nie gemocht habe. Gerda! Und mir wurde besser. Jetzt war er mir plötzlich vertraut, er war mein unglücklicher Flüchtling.
Ich hatte ein Paket von meiner Mutter bekommen, das fast neue Kleider enthielt. Ich sah an dem Tag einigermaßen gut angezogen aus. Ich ging auf den Tisch zu, wo die Russen und Polen saßen und Carlos, der Mann aus Costa Rica. Man stellte sich vor. Ich hatte den Namen Soutine noch nie gehört, die Tischgenossen hatten ihn mit breitem Lachen als »großen Maler« vorgestellt. Er lächelte, und alles an ihm gefiel mir sofort, seine Lippen, das ironische Lächeln, das durch den Zigarettenrauch hindurch in seinem Blick glänzte. Er sprach Französisch mit einem slawischen Akzent, der
café-crème
, der vor ihm stand, war auffällig hell.
Garde, ich bin danach wieder zu den Cafés am Montparnasse gegangen, habe im Dôme und in der Rotonde gefragt, ob jemand etwas wisse über Gurs, wie die Internierten dort gehalten werden, ob ihr genug zu essen habt. Keiner konnte mir
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