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Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Titel: Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Dutli
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letzten Kampfes, und fühlte sich nicht wohl. Ein unerträgliches Brennen im Bauch. Er wollte sofort nach Hause und bat mich, ihn zu begleiten. Plötzlich war er klagend und vertraulich, als ob er mich schon lange kennt. Ich werde Ihnen helfen, ich werde Sie pflegen, sagte ich. In der Villa Seurat machte ich ihm eine Wärmeflasche und reichte ihm ein Glas lauwarmes Vichy-Wasser. Seine Schmerzen beruhigten sich. Er zündete sich eine Zigarette an und begann zu plaudern, sprach von seiner Krankheit, die ihn schon seit einigen Jahren quälte. In seiner Jugend hätten schlechte Ernährung und Alkohol seinen Magen ruiniert. Von Zeit zu Zeit wiederholte er mit leidender Stimme: Sie werden mich doch nicht verlassen?
    Garde! Es gibt bei uns einen Glauben, nach dem jeder Mensch einen winzigkleinen Knochen in seinem Körper hat, der Mandel heißt. Und weißt du, wo es steckt, dieses Mandelknöchelchen? In der Nähe des Atlaswirbels. Es birgt die Seele des Menschen, seinen innersten Kern. Garde! Dieses Knöchelchen ist unzerstörbar. Auch wenn der ganze Körper des Menschen zerrissen, verbrannt und vernichtet wird – das Mandelknöchelchen ist unvergänglich. Darin ist der Funke der Einzigartigkeit des Menschen. Und dem Glauben nach wird der Mensch bei der Auferstehung aus diesem Knöchelchen neu erschaffen. Ich habe nie an die Auferstehung geglaubt, schon in unserem Smilowitschi-Sand damals konnte ich es nicht glauben. Wir können ewig warten, der Maschiach wird uns vergessen haben. Aber an das Knöchelchen glaube ich bis heute. Als du in Gurs warst, habe ich zu deinem Mandelknöchelchen gesprochen, habe ihm zugeflüstert.
    Doch die Beruhigung dauerte nicht lange, die Schmerzen waren erneut da, und qualvoller als vorher. Ich bereitete noch eine Wärmeflasche, er schlief ein. Ich sah ihm die halbe Nacht beim Schlafen zu und fand ihn schön, wie er so dalag in seiner furchtbaren Magerkeit. Irgendwann sank ich erschöpft neben ihn. Im Morgenlicht stand ich auf und wollte gehen, da schreckte er auf: Gerda, Sie werden doch nicht gehen? Er ergriff meinen Arm: Gerda, du warst heute Nacht meine Hüterin, hast mich mit deinen Händen gehalten, jetzt halte ich dich! Er mochte meinen deutschen Namen nicht, also wurde ich Garde getauft, seine Nachtwache, seine Hüterin. Ich begann bereits, meinen Namen Gerda zu vergessen.
    Garde! Ich fahre immer wieder nach Paris, wie damals, 1913. Ich komme nicht aus Wilna, sondern von der Loire, nicht weit von der Demarkationslinie. Heute hätte es keinen Sinn, sie zu überschreiten, ich habe zu lange gewartet. Ich muss zur Operation. Ich fahre in ein weißes Paradies. Ich fahre ins Land der Milch.
    Er war geheimnisvoll, einsam, voller Misstrauen. Alles an ihm war seltsam und fremd. Ich lebte mit ihm, ohne zu ahnen, wer er als Maler war. Wenn er in seinem Atelier arbeitete, duldete er es nicht, dass man ihn störte. Er benutzte eine Vielzahl von Pinseln und warf sie im Fieber der Komposition einen nach dem andern hinter sich auf den Boden. Farbtuben und Pinsel lagen überall herum, zerdrückt und aufgerissen. Manchmal trug er die Farbe mit seinen Händen auf, bestrich seine Fingerbeeren damit, und die Farbe blieb unter den Fingernägeln und war nicht mehr abzuwaschen. Nach getaner Arbeit stellte er das Bild mit dem Gesicht gegen die Wand, damit niemand es sehen konnte. Er verlangte von mir im Ernst, dass ich seine Bilder nicht ansehe. Sie wurden in einen Schrank weggesperrt. Meine Blicke waren nicht erwünscht. Und ich verlangte nichts. Es genügte mir, bei ihm zu leben. Wir waren dafür gemacht, uns zu verstehen, ich liebte ihn. Das ist alles.
    Garde! Niemand hat meine Bilder je gesehen. Sie waren unsichtbar wie ich selbst. Ich hatte Angst, sie wieder anzuschauen, Angst, die Stimme aus ihnen zu hören, die mir befahl, sie zu zerstören, die Leinwand mit dem Messer aufzuschlitzen, alles zu verbrennen. Ich habe dich nie gemalt, um dich nicht verbrennen zu müssen.
    In den zwei Jahren vor dem Krieg lebten Soutine und ich von Tag zu Tag, wir genossen jede verfließende Stunde, die Freude, beisammen zu sein, die bescheidene Süße eines gefährdeten Glücks. Wir hatten freiwillig unsere Vergangenheit abgeschafft und verschlossen die Augen vor der Zukunft.
    Garde! Wer weiß, was die Zukunft ist. Sie ist eine Himbeere. Sie wird kalt sein, dort wird uns niemand lieben, so wie wir uns jetzt lieben. Sie ist eine Wüste. Wermut, Abwesenheit. Dort stehen nur Fremde, die den Kopf schütteln, die Augen vor uns

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