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Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Titel: Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Dutli
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Genaues sagen. Nur, dass alle Deutschen als feindliche Ausländer interniert wurden. Ich ging zurück nach Civry, erinnerte mich an unseren Sommer, als ich die Kinder auf der Landstraße malte, versuchte zu malen, und nichts gelang. Meinen Schutzengel hatte die Radrennbahn verschluckt, er war in den Pyrenäen, ich blieb ohne Nachricht.
    Das Leben in Paris war von neuem schwierig. Ich versuchte, nicht zu verzweifeln, aber auch die Volksfront brachte 1936 für uns israelitische deutsche Flüchtlinge keine Erleichterung. Wollte man Neuigkeiten austauschen, ging man in die Cafés am Montparnasse, dort traf man immer irgendwen, der Rat wusste, eine kleine Arbeit vermitteln konnte. Ich wusch Wäsche bei Fremden und spülte Geschirr, und abends, völlig erschöpft nach zwölf Stunden Arbeit, weinte ich in meinem Bett.
    Garde! Ich hatte dich nicht sofort bemerkt. Es gab so viele Passantinnen in der Mitte der Welt. Das Dôme war ein Taubenschlag, es sprach alle Sprachen, sie kamen herein, sie flogen hinaus, man wurde dem vorgestellt und jener und verlor sich im nächsten Moment wieder aus den Augen. Flüchtige Täubchen des Zufalls.
    Wir haben kaum zehn Worte gewechselt. Aber an den folgenden Tagen hielt ich Ausschau nach ihm, ich traf wieder auf Carlos, sagte ihm, dass ich diesen Maler wiedersehen wolle, Sie wissen schon, welchen, und Carlos führte mich zu Soutine in die Villa Seurat. Mein Gott! Alles erschien mir schmutzig in dieser Wohnung. Die Möbel waren staubig und fleckig, eine Menge Zigarettenkippen lagen auf dem Fußboden, das Atelier war ein einziger Aschenbecher. Der Mann, der hier wohnte, schien in einem Traum zu leben und nichts von alledem wahrzunehmen. Er lebte wie eine zurückgelassene Katze. Alles war heruntergekommen, armselig, abgewetzt.
    Garde! Rembrandts Hendrickje, die in den Fluss steigt, ihr Unterkleid hochraffend, die Schenkel entblößend … Sie schaut auf das Wasser. Modigliani hat nichts so Schönes gemalt, Garde! Es war nicht im Louvre, sondern in London, ich wollte hin, nur um dieses Bild zu sehen, die Frau, die in den Fluss steigt, ich hatte eine Abbildung, die ich überallhin mitnahm, mit Reißzwecken festmachte. Kein Tag sollte vergehen, ohne dass ich einen Blick darauf werfe. Garde! Die Frau, die in den Fluss steigt!
    Er entschuldigte sich, dass er uns keinen Apéritif anbieten konnte. Ich habe eine Magenkrankheit, sagte er, Alkohol ist mir untersagt. Er hatte ein Grammophon und wollte ein Stück von Bach für uns abspielen, lobte seine Schönheit. Er öffnete sein Atelier, aber ich sah keinerlei Bilder, es war leer und dennoch unaufgeräumt. Mir war es gleichgültig, ich war nicht hergekommen, den Maler zu sehen. Ich wohnte damals in einem kleinen Zimmer im
Hôtel de la Paix
am Boulevard Raspail, lud ihn für den übernächsten Tag mit Freunden zum Tee ein, kaufte Kuchen und Blumen. Er kam nicht. Er wird nicht kommen, sagte einer der Eingeladenen. Das ist allen bekannt, Soutine hat keine Uhr. Er vergisst jedes Rendezvous. Es wurde schon Nacht, das Zimmerchen schwebte in einer Wolke aus Zigarettenrauch. Endlich kam Soutine, lächelnd. Er nahm ein bisschen Tee in einer Tasse, füllte sie mit Milch auf. Alle waren gegangen, er blieb als letzter. Er erinnerte sich, dass es im
Vélodrome d’Hiver
an dem Abend Catch gab, wir fuhren mit dem Taxi hin. Soutine nahm für uns die besten Plätze, gleich am Ring. Er war gutgelaunt und scherzte. Ich wusste nicht allzu genau, was Catch war. Es ist ein sehr schöner Sport, sagte Soutine feierlich lächelnd. Fußtritte ins Gesicht sind erlaubt, und auch Kopfstöße in den Bauch. Er lachte ein stilles Lachen und führte die Spitzen von Mittelfinger und Daumen sacht in seine Mundwinkel.
    Garde! Unser Sonntag hatte einen Namen. Wir gingen oft in den Louvre. Ich war überzeugt, dass man nur allein gut sehen kann, ich habe es jahrzehntelang geglaubt. Jetzt hatte jeder vier Augen und ich sah alles noch einmal neu. Garde! Die Fußsohlen des Engels, der Tobias verlässt! Der barmherzige Samariter! Wie er auf der Treppe zurückblickt auf den von Räubern Niedergeschlagenen. Bethsabe mit Davids Brief! Bethsabe! Der kleine Messdiener mit dem Weihwasserkessel und dem Sprengwedel auf Courbets Begräbnis in Ornans! Erinnerst du dich an den kleinen Messdiener? An seinen Blick? Und Chardins Rochen, vergiss den Rochen nicht! Der Louvre war für uns Sonntag. Der Sonntag war Bethsabe, ein kleiner Messdiener, ein Rochen.
    Plötzlich stand er auf, noch vor dem Ende des

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