Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
verschließen. Garde! In Minsk und Wilna wollte ich rasch in die Zukunft, ich war voller Ungeduld, ich hatte es eilig. Paris lag bereits in der Zukunft, ich wollte dorthin. Aber die Zukunft lenkt ab von dem Bild, das in uns entsteht. Die Zeit anzuhalten, damals im Bienenstock, das war jetzt mein Verlangen, und die grobe Leinwand gehorchte widerwillig.
Im
Hôtel de la Paix
am Boulevard Raspail hatte ich ein österreichisches Paar kennengelernt, das wie ich vor Hitlers Terror geflohen war. Sie waren in Paris auf Zwischenstation, warteten auf ihre Auswanderung nach Amerika. Ich wandte mich an Frau Tennenbaum, fragte sie, ob ihr Mann Soutine untersuchen würde. Der Doktor schlug eine Röntgenaufnahme des Magens vor, Chaim akzeptierte, um mir eine Freude zu machen. Soutine leidet, so sagte Tennenbaum zu mir, an einem sehr tiefen Magengeschwür. Ich fürchte, es ist zu weit fortgeschritten und unheilbar. Sein Organismus ist schwach und verbraucht. Ich denke nicht, dass dieser Mann mehr als fünf oder sechs Jahre zu leben hat. Gibt es keine Hoffnung? fragte ich ihn. Hoffen wir auf ein Wunder, antwortete Doktor Tennenbaum, und er verschrieb Soutine Bismut, Papaverin, Laristin. Wir alle hofften auf ein Wunder zu der Zeit. Man hat die schlimmsten Vorahnungen, der Krieg zeichnet sich ab, ich höre im Funk diese gellenden Reden, aber man hofft auf ein Wunder, ist das nicht unglaublich?
Nichts als Wunder im Sinn zu haben, war unser Irrtum. Der Schmerz ist ein Irrtum, der uns bewohnt. Das weiße Paradies ist voll von dieser Milch, die mich erwartet. Ich wollte nicht in meinem eigenen Blut ertrinken. Garde! Wer nie wegfährt, kehrt nie wieder.
Soutine warf die Medikamente weg, bezeichnete den Arzt als einen Scharlatan. Madeleine Castaing kannte einen großen Spezialisten, Professor Gosset. Seine Diagnose war absolut identisch. Und Soutine wollte jetzt gesund werden, sich richtig ernähren, alle Medikamente schlucken, die die Ärzte ihm verschrieben. Er ernährte sich seit Jahren von gekochten Kartoffeln, aus dem Wasser gezogenen faden Nudeln, Gemüsesuppen, Milchkaffee. Er war stark abgemagert, man konnte seine himbeerroten Rippen sehen. Jetzt fand er neue Freude am Essen, ich kaufte Schinken für ihn, kochte Beefsteaks, gebratene Hähnchen … Er lachte, wenn meine Platten auf den Tisch kamen, er scherzte: Rühr das Hähnchen nicht an, das ist alles für mich. Er fand es schön, wieder am Leben zu sein.
Die Figuren sollten der Zeit befehlen stillzustehen. Nur das Magengeschwür meldete sich wie ein schlechter Puls, ein verpasster Rhythmus trieb es voran. Garde! Du wirst mich doch nicht verlassen, wenn ich nach Paris zur Operation muss? Wie oft habe ich in letzter Zeit nach dir gerufen! Mir scheint, ich fahre in die kalte Zukunft. Es gibt dort ein Land der Milch, alles ist weiß, die Kühe sind weiß. Ich muss durch das Weiß hindurch, und es wird mich heilen, Garde!
Von Monat zu Monat stellte ich Besserung fest. Seine Freunde beglückwünschten ihn. Ich empfand es als mein Glück, es war mein Werk. Die Liebenden weiden sich mit Verwunderung an ihren Liebkosungen. Manchmal betrachtete er mit aufmerksamem Blick meinen Körper. Du bist schön, sagte er mir einmal lachend, du gleichst einem Bild von Modigliani! Ich weiß, dass ich mich lächerlich mache, indem ich das erzähle.
Garde! Sprich mit mir, nicht zu den Fahrern, nicht zur Zukunft, sprich mit mir. Schau mich an, ich liege hier neben dir auf dieser metallenen Pritsche. Du kennst meine Lieblingsfarben, Zinnoberrot, Silberweiß, Veronesegrün. Sprich mit mir!
Im August 39 fuhren wir nach Civry, in ein Dorf in der Nähe von Auxerre. Der litauische Maler Einsild hatte davon geschwärmt, reizende Landschaft, absolute Ruhe, weg vom Montparnasse-Fieber. Die Glockentürme von Auxerre tauchten auf. Civry, sein einziger Kolonialwarenladen, Tabak, Milch, Wurst und Nähfaden. Kaffee und Apéritif am selben Ort. Das Zimmer bei Madame Galand, einfach und sauber, das Wasser musste man an der Pumpe holen. Die Straße nach Isle-sur-Serein, die Pappeln und die Sonne. Soutine hat sie mehrfach gemalt. Tote Hasen, Bauernkinder mit verschmierten Mäulern. Um sie zum Stillsitzen zu bringen, verteilte ich Süßigkeiten. Es war unser letzter banger Sommer, Soutine lauerte misstrauisch auf die Ankunft der Zeitung, versuchte zu verstehen, was sich jenseits der Grenzen abspielte. Am 1. September 1939 Polen, zwei Tage später Frankreichs Kriegserklärung. Vorher waren wir nur zwei Sonderlinge vom
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