Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
Montparnasse, die hier ihren Sommer verbrachten, jetzt fiel plötzlich der Verdacht auf uns, wir könnten Spione sein. Jedenfalls waren wir »feindliche Ausländer«, ob wir selber Verfolgte waren, interessierte keinen. Eine Woche zuvor hatten Molotow und Ribbentrop den Nichtangriffspakt unterzeichnet. Und der Bürgermeister, Monsieur Sébillotte, schwoll an vor Wichtigkeit und verbot den beiden auffälligen Ausländern mit ihrem verdächtigen deutschen und slawischen Akzent jede Abreise »bis auf weitere Verfügung«. Wir saßen in Civry fest. Die Sommeridylle wurde zur Fußfessel. Soutine erhielt nach vielem Hin und Her die Erlaubnis, nach Paris zu fahren, um Ärzte zu konsultieren. Seine Schwüre wollten mich beruhigen: Du-bist-meine-Frau, hab-Vertrauen, nie-werde-ich-dich-verlassen, lass-dich-nicht-entmutigen.
Ich versuchte verzweifelt, für dich einen Passierschein zu bekommen. Mein Magengeschwür bekam einen, aber mein Engel musste dort ausharren.
Ein kalter Herbst folgte, ich blieb allein zurück. Alles, was im Sommer hier geleuchtet hatte, war nun von tödlicher Traurigkeit in diesem Dorf der hundert Seelen. Soutine brachte nach zwei Monaten einen gültigen Passierschein für mich, wir weinten vor Glück bei unserem Wiedersehen, er nahm gerührt den blauen Pullover, den ich für ihn gestrickt hatte mit den Initialen C. S. Der Bürgermeister plusterte sich noch mehr auf und belehrte uns, dass in Kriegszeiten einzig der Bürgermeister die Befugnis habe, zwei verdächtigen Ausländern die Bewegungsfreiheit zu entziehen. Ich, Sébillotte, Bürgermeister von Civry … Ende April 40 setzten wir uns über das Verbot hinweg, packten nachts unsere beiden Koffer, nahmen nur das Nötigste mit und gingen zu Fuß bis nach Isle-sur-Serein. Das Dorf schlief fest. Die dunkle Landstraße, die Soutine oft gemalt hatte, nahm uns auf, wir waren jetzt die Schulkinder, die Hand in Hand im Sturm den Weg nach Hause suchten. Um ein Uhr nachts nahmen wir den Zug nach La Roche, stiegen um, näherten uns langsam Paris. In der Gare de Lyon nahm mich Soutine in den Arm und flüsterte mir ins Ohr:
Garde, du bist gerettet …
Eine Woche später begann der Überfall, Europa war in Aufruhr. Am 10. Mai 1940 kapitulierten Belgien und Holland. Als die deutschen Truppen sich näherten, ordnete die Regierung an, alle deutschen Staatsangehörigen als feindliche Ausländer zu internieren. Es war ein bunter Haufen, jüdische Flüchtlinge, Kommunisten, Anti-Faschisten, Künstler und zufällig auf französischem Boden sich befindende Deutsche, alle zu einem feindlichen Brei zusammengerührt und in die Internierungslager gesteckt. Ich musste am 15. Mai 1940 in die Winterradrennbahn. Wir durchquerten Paris im Taxi. Wir schwiegen. Wir stiegen aus, umarmten uns lange. Ich trat durch eine Glastür und verschwand im dunklen Innern. Ich sah ihn nie wieder.
Als du weggingst, dachte ich: Das ist das Ende. Mein Schutzengel hat mich verlassen, meine Garde. Bald holen sie mich auch, und dann ab, du weißt wohin. Wenn sie die Schutzengel holen, was soll aus uns werden? Sie sind die letzten, die man verhaften darf. Nachts träumte ich mehrmals in der Villa Seurat von schwarzen, dampfenden Müllhalden, wo verwundete Engel mit noch zuckenden Flügeln durcheinander lagen. Es war Nacht, sie hatten von Kohle und Öl verschmierte Gesichter und wimmerten im Dunkeln. Die Halde knarzte unter meinen Schuhen wie zerstoßenes Glas, wie lauter kaputtes Keramik- und Porzellanzeug. Ich hatte Angst, auf die Engel zu treten, suchte einen Weg zwischen ihnen. Und ich musste meinen Engel unter ihnen suchen. Mademoiselle Garde! rief ich laut, ich riss meinen Mund weit auf, doch aus ihm kam kein Laut. Ich versuchte es nochmals, schrie lauter, so laut ich konnte, aber nichts geschah, keine Antwort kam, nur dieses entsetzliche Wimmern wie von verletzten Nagetieren. Und ich hörte betäubend laut, durch irgendwelche Lautsprecher verstärkt, das Schlagen meines Herzens. Der Traum versetzte mich in großen Schrecken, ich sprang auf in meinem Bett und schrie ein letztes Mal:
Mademoiselle Garde!
Der Schrank
Der Maler schaut zur blanken hellen Decke hinauf und wartet, bis die Geräusche auf dem Flur verebben. Es muss Nacht sein oder etwas Nachtähnliches im Land des Schnees und der Milch. Er versucht sich zu erinnern, aber da ist nicht mehr viel. Der Morgen in Chinon, die Linden, der schwarze Citroën, die merkwürdigen Leute, die im Leichenwagen zu ihm sprachen, eine unendlich lange
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