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Souvenirs

Souvenirs

Titel: Souvenirs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foenkinos
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seiner Aussprüche folgte eine endgültige Feststellung meinerseits. Es gibt Leute, die stundenlang reden können, ohne dabei irgendetwas auszusagen, die imstande wären, ausführliche Abhandlungen über das Wetter zu schreiben oder über eine Wolke zu dissertieren, bloß umnicht nach Hause gehen zu müssen. Zu dieser Spezies gehörte Gérard, mir hingegen gelang es nicht, auch nur einen Satz zu formulieren, der sich dazu eignete, ein Gespräch in Gang zu halten. Vielleicht war dieses Unvermögen der Grund, weshalb ich anfing, über meine Großmutter zu sprechen. Ja, ich erzählte ihm von meinen Ängsten, quasi um ihm eine Freude zu machen. Doch ich merkte recht bald, dass es mir guttat, darüber zu reden. Dass es mir vor allen Dingen guttat, mit jemandem zu reden, der in keiner direkten Verbindung zu meiner Familie stand. Das Bild, das sich mir geboten hatte, als ich zum ersten Mal das Altenheim von innen gesehen hatte, ließ mich seit einigen Tagen nicht mehr los. Mir war, als hätte ich das Wartezimmer des Todes betreten. Ich dachte an nichts anderes mehr. Es mochte albern klingen, doch mein Bewusstsein war vom anstehenden Verfall erfüllt. Ich spürte abwechselnd den Drang, die Fülle des Lebens auszukosten, und dann wieder ein tiefes Gefühl der Leere. Das heißt, in meiner Wahrnehmung erschien alles lachhaft und absurd.
     
    Der Sommer wurde mörderisch. Unsere Alten gaben ihr unscheinbares Dasein auf, die Leichenschauhäuser platzten aus allen Nähten. Man kennt viele Formen des Protests, dies war eine davon. In der Presse fiel die zentrale Frage: «Wie kann ein westliches Land die Generation der Älteren so verkommen lassen?» Die Antwort lag auf der Hand. Die Katastrophe konnte ja nur geschehen, weil wir ein westliches Land waren. Es gibt in Europa keine Tradition, was das Schicksal alter Leute anbelangt. So erlebte Frankreich einengeriatrischen Schock. Auf einmal tauchten verwahrloste Männer und Frauen auf, die vereinsamt in ihren Wohnungen dahinsiechten. Gérard war froh, ein gutes Gesprächsthema zu haben. Er reihte allerhand Gedankenketten aneinander, und ich wollte ihn nicht unterbrechen. Es ist leicht, ein Problem zu erörtern, das einen selbst nicht betrifft; aber was würde er in ein paar Jahren mit seinen Eltern machen? Er ging ins Gericht mit all den Familien, die sich in der Sonne aalten und zwischen zwei Gläsern Pastis mal einen Anruf starteten, um ihre Schuldgefühle zu verscheuchen:
    «Ähm, Mama, du musst viel trinken … das ist ganz wichtig … ja? Nicht vergessen … zwei Liter Wasser am Tag, hat’s geheißen … und ganz liebe Grüße von allen, soll ich dir ausrichten … Wir haben dir eine Postkarte geschrieben, ist schon abgeschickt … wir denken oft an dich! Okay, ich muss jetzt aufhören … vergiss nicht zu trinken …»
    Er wirkte zufrieden mit seiner kleinen Parodie, aber mir war wohl anzusehen, dass ich sie nicht zum Lachen fand. Ich gehörte nun nämlich auch zur Gruppe der Postkartenschreiber. Zu der Gruppe, die anruft und der es lästig ist anzurufen, weil sie nicht weiß, was sie sagen soll, und die nicht zu fragen wagt, wie es den Alten geht, weil sie weiß, dass es ihnen nicht gut geht. Und da ständig diese Gesprächspausen entstehen, sind die Alten dann nach einer Weile so freundlich und eröffnen, dass ihnen irgendetwas wehtut, die Zähne, die Beine, die Augen oder was auch immer, ist auch egal, und so laden sie dazu ein, das zu diagnostizieren, was einzig und allein zu diagnostizieren ist: die Schmerzen. Man diagnostiziert und diagnostiziert, man tutso, als würde man fest davon ausgehen, dass die Schmerzen vorbeigehen, und denkt sich, dass es eigentlich grauenvoll ist, ständig Schmerzen zu haben. Man denkt sich weiter, dass der gleiche Zerfall, diese Schmerzen bei jeder Bewegung, einem selbst ja auch noch bevorstehen.
     
    Gérard fasste sich wieder und machte einen Vorschlag:
    «Und wenn wir deine Großmutter ins Hotel einladen? Für ein oder zwei Nächte? Das wird sie auf andere Gedanken bringen.»
    «Danke, das ist sehr nett von Ihnen. Aber ich glaube nicht, dass sie dazu Lust hätte.»
    «Und wie sieht’s mit einem Ventilator aus? Ich hoffe, sie hat einen? Die Leute stürzen sich ja wie die Irren drauf, die Vorräte werden knapp. Man kommt sich vor wie im Krieg. Aber ich kann problemlos einen besorgen. Ich hab gute Kontakte.»
    «Sehr nett, aber sie hat schon einen.»
    «Na ja, gib mir einfach Bescheid. Wenn du irgendwas brauchst.»
    In diesem Augenblick kam

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