Souvenirs
sehr. Die Wohnung war ihr egal. Was ihr nicht aus dem Kopf ging, das waren ihre Möbel, ihre Vorhänge, ihre Bestecke. Alles war weggegeben oder weggeworfen worden, und darüber regte sie sich auf. Was diese Sachen ihr bedeutet hatten, darüber waren sich ihre Söhne nicht im Klaren gewesen. Sie hatten geglaubt, das sei nichts wert, das würde sie sowieso nicht mehr brauchen, sie hatten nicht begriffen, dass es darum nicht ging. Sie hatten nicht bedacht, dass Dinge ein Gedächtnis haben; hatten die menschliche Größenordnung einer Gabel nicht ermessen; hatten die Decke weggeschmissen, die meine Großmutter viele Winter lang gewärmt hatte; hatten das Licht der Lampe für immer gelöscht, unter der meine Großmutter am Abend vor dem Einschlafen unzählige Bücher gelesen hatte. Indem man all das tat, ohne ihr Bescheid zu geben, trieb man sie in den Tod. So artig ihre Söhne sich auch entschuldigen mochten und versuchen würden, ihr zu erklären, dass es eben eine einmalige Gelegenheit gewesen war, die ein schnelles Handeln erfordert hatte, es war zwecklos, meine Großmutter setzte sich in den Kopf, auf ihrem Gefühl der Verbitterung zu beharren; setzte sich in den Kopf, nun ohne ihre Kinder zu sterben.
Die neue Situation erschütterte meinen Vater schwer. Er mochte sich mehr als seine Brüder um seine Mutter gekümmert und immer sein Bestes gegeben haben, nun redete sie nicht mehr mit ihm. Jede Nacht fürchtete er, sie könne in diesem Zustand sterben. Ohne ihm verziehen zu haben. Er hatte niemanden, mit dem er seine Angst hätte teilenkönnen. Meine Mutter war nie da. Sie hielt täglich im Internet Ausschau nach günstigen Reisemöglichkeiten. Mein Vater fragte sich, warum sie ihm nie den Vorschlag machte mitzukommen. Aber so war das halt. Sobald sie von einer Reise zurückkehrte, war zu spüren, dass sie mit den Füßen scharrte und schon die nächste Reise im Sinn hatte. Das Alarmierende an dieser ständigen Flucht hatten wir noch nicht erkannt. Wir dachten, sie wolle das Leben genießen, darauf, dass sie das ihrige nicht mehr bewältigte, kamen wir nicht. Mein Vater war unglücklich und machte aus seinem Unglück ausnahmsweise keinen Hehl. Und dieses unleugbare Unglück sollte den unbeugsamen Willen meiner Großmutter brechen. Eines Tages nahm sie ihn in die Arme und sagte zu ihm:
«Tu mir so etwas nie wieder an …»
«Ja, Mama, ich versprech’s … es tut mir so leid …»
Wie seltsam für beide, einen solchen Moment zu erleben, in dem vergangene Zeiten auf ganz merkwürdige Weise widerhallten. Man hätte meinen können, es handle sich um eine Szene aus der Kindheit, in der die Mutter ihrem Kleinen vergibt, der eine große Dummheit begangen hat. Am Tag der Versöhnung (der wie eine Rückkehr ins Leben war) bat meine Großmutter meinen Vater um Geld: «Ich will zum Friseur.» Er war überglücklich, sich wieder nützlich machen zu können.
20
Erinnerungen des Nachbarn, des gegenwärtigen Eigentümers der einstigen Wohnung meiner Großeltern
Mit sechzehn träumte er von seiner Nachbarin, einer so sinnlichen wie verheirateten Frau um die dreißig. Sie war schön und vor allen Dingen mit einer üppigen Oberweite gesegnet. Nacht für Nacht stellte er sich vor, dass er ein kleiner Robinson Crusoe war und von den Fluten davongespült wurde, wie er allerdings nicht auf einer einsamen Insel landete, sondern auf den Brüsten seiner Nachbarin. Da wollte er sein Leben verbringen, das war mit Sicherheit das schönste Land auf Erden. Nun kam er auf einen Gedanken: in seinem Zimmer ein Loch in die Wand bohren. Nach seinen Berechnungen befand sich das nachbarliche Schlafzimmer genau dahinter. «Schlafen … ich hab was Besseres vor!», gluckste er, während er seinen machiavellistischen Plan ausheckte. Er nutzte die Abwesenheit seines Vaters (als Zugführer war dieser oft tagelang weg), um mit den Arbeiten zu beginnen. Man kann es vorwegnehmen, die Sache wurde ein Reinfall. Die Nachbarn entdeckten das Loch in der Wand und erstatteten Anzeige. Der Vater einigte sich mit ihnen schließlich auf gütlichem Wege, das heißt auf eine gewisse Summe, und seinem Sohn verpasste er eine saftige Ohrfeige. Er schrie ihn an: «Du hast wohl nicht mehr alleTassen im Schrank, du hast anscheinend vollkommen den Verstand verloren!» Und so scheiterte das Vorhaben seiner sexuellen Weiterbildung.
21
Dadurch, dass ich nachts arbeitete, hatte ich mich, ohne es so recht zu merken, von vielen meiner Freunde entfernt. Weil um 20 Uhr mein
Weitere Kostenlose Bücher