Souvenirs
Gleichwohl befand sie eines Tages, dass die Abwesenheit ihres Vaters länger dauerte als üblich. Dass niemand sich ihr zu sagen getraute, dass ihr Vater vor ein paar Monaten bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, konnte sie nicht ahnen. Es konnte auch niemand ahnen, dass man sie in eine schreckliche Ungewissheit stürzte, indem man versuchte, ihr das Leid zu ersparen. Eine Welt der Ungewissheit, die auseinanderbrechen sollte, als die Wahrheit schließlich ans Lichtkam. In ihrer Jugend wurde sie von ständigen Tobsuchtsanfällen gepackt und war wie besessen von dem Gedanken, nach Paris zu fahren. Was sie später tun sollte, als sie erwachsen war. Diese Stadt verkörperte für sie das Andenken an ihren Vater. Immer wieder reiste sie nach Paris, gewissermaßen, um sich innerlich zu sammeln. Die Champs-Élysées, die Rue Oberkampf oder auch die Avenue Kléber waren für sie wie gigantische Friedhofsalleen. Hier ruhte die Seele ihres Vaters, da war sie sich sicher. Wenn ihr manchmal die Realität entglitt, musste sie sich plötzlich an etwas Konkretem festhalten; sie war dann imstande, eine x-beliebige Person anzurufen, nur um sich zu vergewissern, dass am anderen Ende der Leitung tatsächlich eine menschliche Stimme war.
25
Ich machte mich augenblicklich auf den Weg zum Altenheim, wo mich mein Vater erwartete. In der Métro gingen mir ununterbrochen die Worte durch den Kopf, die er am Telefon zu mir gesagt hatte. «Deine Großmutter ist weg», das war es, was er gesagt hatte. Da ich ihn nur zu gut kannte und wusste, wie er mit Worten herumzueiern pflegte, hatte ich mir vorgestellt, er würde mir den Tod seiner Mutter eher so verkünden:
Sie ist dahingegangen
oder
Sie ist von uns gegangen
oder eben
Sie ist weg.
Ich glaube, er wäre sogar imstande gewesen zu sagen:
Es ist vorbei.
Dass er
Deine Großmutter ist gestorben
sagen würde, konnte ich mir dagegennicht vorstellen. Sein Anruf am Morgen, das hatte ich sofort gespürt, brach irgendwie aus dem Gewöhnlichen aus. Mein Verhältnis zu ihm beruhte auf fest eingetragenen Terminen, immer unspektakulär, eine Art Beziehungsautobahn. Und ich sollte mich, als mir die Dramatik des Augenblicks schwante, nicht getäuscht haben. «Deine Großmutter ist weg», ja, das waren seine Worte. Und ich sage sie immer noch vor mich hin. Keine Sekunde dachte ich daran, sie wörtlich zu nehmen, sie ihrer zarten und bedächtigen Dimension zu berauben. Erst nach einer Pause, die mein Vater anscheinend machte, damit ich die erste Information verdauen konnte, ergänzte er: «Sie ist echt weg. Sie hat die Nacht nicht in ihrem Zimmer verbracht, und niemand weiß, wo sie steckt.» Zuweilen war mein Vater also imstande, die richtigen Worte zu wählen.
Die Métro bewegte sich auf ihren unabänderlichen Bahnen[ ∗ ], und ich hatte das Gefühl dahinzutreiben; wahrscheinlich weil ich nicht geschlafen hatte. Ich las die Namen der Haltestellen. Zum ersten Mal nahm ich die Schilder
richtig
wahr. Es gibt Momente, in denen das, was man täglich sieht, plötzlich in einem anderen Licht erscheint; die dramatischen Umstände dieses Morgens verliehen dem Unbedeutenden etwas sinnlos Nachhaltiges. Und auch die Passagiere, die meine Wege kreuzten, traten mit einem Mal aus ihrer grauen Anonymität heraus und schrieben sich mir insGedächtnis ein. Ich wurde von Emotionen überwältigt, und doch sind das die Momente, die man am leichtesten zu Papier bringt, da man auf eine lückenlose Erinnerung zurückgreifen kann. Die Erinnerung quillt über von unnützen Details, und ich brauche mich nur doof zu bücken und die Früchte der Szene aufzulesen. Der Szene, die sich nun mit meiner Ankunft im Altenheim fortsetzt, wo ich in das vor Panik erstarrte Gesicht meines Vaters schaue. Ich erinnere mich, ich war erstaunt, ihn in einem solchen Zustand anzutreffen, in dem er weder ein noch aus wusste, nicht wusste, ob ihn die große Wut überkommen oder ob er sich fassungslos einem Schwächeanfall hingeben sollte. Als er mich sah, stürzte er sich förmlich auf mich, um mir die nackten Tatsachen zu berichten. Er überschlug sich in fahriger Eile, und ich dröselte im Geiste seine Sätze auf, um sie besser verstehen zu können, so, wie man versucht, zwei sich prügelnde Rivalen auseinanderzutreiben.
Einige Minuten darauf standen wir der Heimleiterin gegenüber. Sie hatte die Muße, mir all das, was sie schon meinem Vater erzählt hatte, noch einmal zu erzählen. Ich betone, sie hatte dem nichts hinzuzufügen, keine
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