Souvenirs
Liebe. Eine wahrlich unerträglich große Liebe, die von seiner Schwester von ihm ferngehalten wurde, um ihn zu schützen. Geschwächt durch die Niederlage, begann der Philosoph, allerlei Medikamente zu nehmen, und zahlreiche Kenner sehen just darin die Ursache für den einige Jahre später erfolgenden Kollaps. Besessen von seiner Liebe zu Lou, beschrieb Nietzsche auf einer sommerlichen Irrfahrt durch Italien seinem Freund Franz Overbeck den unsagbaren Schmerz, den Erinnerungen auslösen können: «Ich habe an den beschimpfenden und qualvollen Erinnerungen dieses Sommers gelitten wie an einem Wahnsinn … ich spanne alle Fasern meiner Selbstüberwindung an – aber ich habe zu lange in der Einsamkeit gelebt und an meinem ‹eigenen Fette› gezehrt, sodass ich nun auch mehr als ein anderer von dem Rade der eignen Affekte gerädert werde.»
33
Ich wollte wieder zurück an die Arbeit, auch wenn mein leutseliger Chef dagegen war. Mich dürstete nach Beschäftigung mit etwas Konkretem, womöglich auch nach Erschöpfung durch Müdigkeit. Als ich mich an jenem Abend an die Rezeption setzte, fühlte ich mich merkwürdig wohl. Ich spürte, ich hatte meinen Platz gefunden. Das Hotel war nicht übermäßig charmant, die Arbeit nicht besonders aufregend, doch der Rezeptionsbereich, der nun schon seit einigen Monaten mein war, bot mir das, wonach ich mich so lange gesehnt hatte: eine Form von Stabilität. Ich saß auf meinem Stuhl wie in einem Hafen. Wenn man mich hier befestigte, war kein Abtreiben mehr möglich.
Gérard war auch da. Um auf seine Fragen eingehen zu können, bemühte ich mich, mich über aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen auf dem Laufenden zu halten. Aber er merkte, dass ich an dem Abend keine große Lust hatte zu reden. Er blieb im Foyer sitzen, bis er aus heiterem Himmel verkündete:
«Vielleicht sollte ich die beiden anderen Hotels verkaufen, nur dieses behalten und ein bisschen das Leben genießen …»
«…»
«Was hältst du davon?»
Was konnte ich schon für eine Meinung dazu haben? Ich sagte wohl, das sei bestimmt eine gute Idee, wie man es halt sagt, wenn man keine Ahnung hat. Er fügte hinzu:
«Du könntest dieses hier übernehmen, wenn ich nicht da bin. Du könntest Geschäftsführer werden. Oder Mitinhaber.»
«…»
«Ist das ein interessantes Angebot?»
War das ein interessantes Angebot? War das die Frage? Woher sollte ich das wissen? Die jüngsten Geschehnisse hatten mich fast vergessen lassen, dass ich auch noch ein eigenes Leben hatte. Ich hatte zu nichts mehr wirklich eine Meinung. Ich versuchte, den Lauf der Ereignisse zurückzuverfolgen: Ich hatte mir einen Hoteljob gesucht und nachts arbeiten wollen, um das Klischee des heranwachsenden Schriftstellers zu bedienen. Was bis jetzt dabei herausgekommen war, war nicht gerade glorreich, ich hatte nicht einmal Stoff für eine kleine Erzählung. Aber okay, ich spürte, das würde schon noch kommen, meine Gedanken machten Fortschritte, da war etwas im Entstehen. Die Hotels hatten mich aus literarischen Gründen angezogen, sicherlich nicht, weil ich eine Karriere im Hotelwesen anstrebte. Andererseits war das eine herausragende Gelegenheit. Es war unwahrscheinlich, dass ich mit Büchern eines Tages Geld verdienen würde, also was tun? Nichts. Ich brauchte nichts zu tun. Ich erklärte, dass ich Zeit brauchte, um zu überlegen. Er meinte, das habe keine Eile, das sei nur so eine Idee von ihm gewesen, über die ich mal nachdenken sollte. Mit ihm war alles einfach.
Alsdann begann er, mir von seiner Frau zu erzählen. Es war seine zweite. Die erste war mit den beiden Kindern nach Australien ausgewandert. «Okay, es kommt vor, dass Frauen einen verlassen, aber die Frauen, die mich verlassen, flüchten gleich bis ans Ende der Welt!», sagte er lachend. Dabei musste die Geschichte schrecklich für ihn sein. Nicht wegen der Trennung von seiner Frau, denn die Ehe hatte in Trümmern gelegen, sondern wegen der von seinen Kindern. Als er über sie und insbesondere über seinen Sohn redete, der ungefähr in meinem Alter war, ahnte ich, was hinter seinem väterlichen Gebaren mir gegenüber steckte. Das heißt, so analysierte ich zumindest leichthin seine wohlwollende Offenheit. «Die moderne Welt ist unglaublich. Wir skypen. Ich kann ihre Stimmen hören, ich kann sie sehen. Daher kann ich gar nicht genau sagen, wie lange ich sie eigentlich nicht mehr gesehen habe …» Er führte mir alle möglichen Einzelheiten über sie aus. Anfangs hatte
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