Souvenirs
glaubte, dass ich verheiratet war, und ich spürte, sie wäre auch imstande gewesen, die Trauzeremonie zu schildern. Ich überlegte einen Moment, ob ich das Spielchen noch ein bisschen weitertreiben sollte, nur um herauszufinden, wie meine Frau in ihrer Vorstellung aussah. Gut möglich, dass sie sehr schön war; zart und liebevoll, eine Schweizerin mit langem glattem Haar. Vielleicht verbarg sich hinter der Bewusstseinstrübung meiner Mutter der Wunsch, mich glücklich zu sehen. Während der kurzen Träumerei vergaß ich meine Unsicherheit: Was sollte ich nun sagen? Beschwichtigend einwirken und die Situation so hinnehmen oder zäh kämpfen, um meine Mutter wieder auf den Weg der Wahrheit zu bringen? Ich zögerte einen Augenblick, bevor ich sagte:
«Es geht ihr sehr gut. Sie lässt dich schön grüßen. Und wünscht dir gute Besserung.»
«Du hast wirklich gut daran getan … sie zu heiraten.»
«Ja, ich weiß, Mama. So ein Glück …»
Ich ließ meine Mutter allein. Als ich aus dem Zimmerging, blieb ich noch einen Moment in der Tür stehen. Sie bekam nicht mit, dass ich sie beobachtete. Sie murmelte etwas vor sich hin, das ich nicht verstand. Reihte irgendwelche Worte aneinander, die wie Klagelaute klangen. Dann nahm sie die Ikone zur Hand, schloss die Augen und drückte das Ding fest an ihr Herz.
Mein Vater saß noch immer in der Küche. In genau der gleichen Haltung wie davor. Er wollte auf der Stelle von mir wissen:
«Und? Was hast du für einen Eindruck von ihr?»
«Ich weiß nicht so recht. Am Anfang wirkte sie ganz ruhig … und ziemlich normal. Aber dann hat sie angefangen, von meiner Frau zu sprechen.»
«Ach …ja … zeitweilige Wahnvorstellungen … das kommt ganz häufig vor, hat der Doktor gesagt.»
«Ah, was hat er noch gesagt?»
«Er hat gesagt, dass starke Depressionen gerade im Renteneintrittsalter gehäuft auftreten. Vor allen Dingen bei Lehrern oder bei Leuten, die von ihrem Beruf her einen regelmäßigen Rhythmus gewohnt sind.»
«Ach, echt?»
«Ja, das hat er gesagt. Das klingt doch beruhigend.»
«Und hat er gesagt, wie lange das dauern wird?»
«Oh, das kommt drauf an … nicht so lang im Allgemeinen. Nach ein, zwei Monaten Therapie wird’s normalerweise besser. Aber manchmal … dauert’s auch länger … na ja, ich glaube, das lässt sich nicht wirklich vorhersagen. Das schwankt. Wie bei allem, was psychisch bedingt ist.»
Man gab es einfach zu. Bei Depressionen kann niemand verlässliche Angaben machen. Ich dachte mir, dass alles Mögliche passieren konnte; und malte mir natürlich das Schlimmste aus. Ich sollte mich noch wundern, was im Weiteren geschehen würde, aber erst einmal war ich ratlos. Ratlos wie mein Vater. Er bot mir einen weiteren Kaffee an. Ich sagte Ja. Er bot mir einen weiteren Keks an. Und ich sagte Ja. Es verging ein Moment des Schweigens, dann verkündete ich:
«Ich glaube, Oma hat ihre Flucht genau geplant.»
«Was?»
«Ich bin mir sogar sicher.»
«Wie kommst du darauf?»
«Sie war überhaupt nicht beim Friseur. Nie. Das Geld, das du ihr gegeben hast, hat sie die ganze Zeit gespart.»
Ich berichtete meinem Vater von meinem Besuch im Friseursalon. Unsere Vorahnungen bestätigten sich. Die Angst ließ nach. Sie war noch am Leben, wir mussten befürchten, dass sie stürzte oder dass ihr etwas Schlimmes zustieß, aber die grauenvollen Vorstellungen, die wir am Anfang gehabt hatten, waren weg. Allerdings beschlich uns angesichts der Wahrheit, der wir ins Auge blickten, ein ungutes Gefühl: Sie war einfach abgehauen, ohne uns Bescheid zu geben. Wir waren ihr fremd geworden. Sie hatte sich aus freien Stücken auf und davon gemacht. Das erschreckte mich in dem gleichen Maße, wie es mich faszinierte. Ja, ich glaube, ich empfand in diesem Moment eine Art Bewunderung für sie.
∗ Sollten Sie beim Lesen dieses Buchs Seiten übersprungen haben, was mir leidtun würde, können Sie jederzeit zu den Kapiteln 8 und 10 zurückblättern und Ihr Gedächtnis auffrischen.
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Nietzsches Erinnerungen
Nietzsches Leben war eigentlich schon etwa zehn Jahre vor seinem Tod beendet. 1889 erlitt er in Turin einen «geistigen Zusammenbruch», wie seine Biographen es nennen. Er sank in einen quasi vegetativen Zustand, immer wieder heimgesucht von Sinnestäuschungen und schweren Wahnvorstellungen, in denen seine Vergangenheit aufblitzte. In dieser Vergangenheit geht in erster Linie Lou Andreas-Salomé um, eine Russin, die dann Rilkes Muse wurde. Lou war Nietzsches große
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