Souvenirs
mir dieses Chaos doch nicht allein überlassen.» «Hä?»
«Das ist deine Mutter. Du bist vollkommen gefühllos!»
Ich führte seine Äußerungen wohl am besten auf die nervöse Erschöpfung zurück. Ich fand Entschuldigungen für sein Verhalten, während mir doch nur nach einem der Sinn stand: ihn eiskalt vor die Tür zu setzen. Deutlicher denn je erkannte ich, was für Egoisten meine Eltern waren. Nie hatte mein Vater sich für irgendeines der Probleme interessiert, die ich in der Schule hatte, oder irgendwie an meinen Pubertätskrisen Anteil genommen, aber nun stand er da und klagte mich an. Ich hatte Lust, ihm zu sagen, dass niemand für das Wohl seiner Eltern verantwortlich ist. Aber mir war schon klar, dass sein Unmut eigentlich nicht mir galt. Er suchte einen Verbündeten in der Not, und ich war der einzige, an den er sich wenden konnte. Ich wollte die Rolle allerdings nicht annehmen. Denn ich stand an der Schwelle zum Glück. Ich war gewillt, hart zu bleiben, als er zu sagen wagte:
«Wenn sie stirbt, wird dir das dein Leben lang leidtun.»
«Bei dir piept’s wohl. Das ist ja total gehässig, so was zu sagen.»
«… Entschuldige, das wollte ich nicht …»
Nach wenigen Sätzen waren wir bereits am Ende unserer Konversation angelangt. Die Unterhaltung steckte in einer Sackgasse. Ich holte einmal tief Luft, dann seufzte ich: «Na gut, fahren wir.» Erleichtert bedankte er sich.
Ich ging wieder hinein und zog mich rasch an. Louise tat so, als würde sie schlafen. Und ich tat so, als würde ich glauben, dass sie tatsächlich schlief. Ich hatte Lust, es mir noch einmal anders zu überlegen. Ich befand mich in jenem Frühstadium der Liebe, in dem einem jede ohne den anderen verbrachte Minute absurd erscheint. So unfassbar wie die Vorstellung, dass ein Mann ohne Kopf herumläuft. Wir fuhren mit dem Auto. Ich hatte es satt, im Anschluss an schlaflose Nächte komplizierte Situationen durchstehen zu müssen. Man hielt mich für nett, derweilen war ich bloß von Müdigkeit gerädert. Sobald der Wagen sich in Bewegung setzte, veränderte sich die Miene meines Vaters. Er war von einer unzähmbaren Wut getrieben gewesen, als er ins Hotel kam. Aber jetzt war er ganz zuckersüß, meine Gesellschaft beruhigte ihn sicherlich. Das sind die wahrhaft unausstehlichen Leute, die nahtlos vom Jähzorn zur Anschmiegsamkeit übergehen können. Friedlich rollte er dahin und erkundigte sich nebenher, wie es in meinem Leben lief und wer die Frau war, die in meinem Bett schlief. Ich sagte ihm, es sei dieselbe wie die bei der Beerdigung. Bei ihm klingelte nichts. Vor ein paar Tagen hatte er ihr die Hand geschüttelt, aber nun, da das Gespräch auf sie kam, konnte er sich an rein gar nichts mehr erinnern (meinem Vater ging es anscheinend richtig schlecht: Louise war absolut unvergesslich). Ich fragte mich, ob ich vielleicht ein Zimmer für ihn in derselben Klinik, in der meine Mutter war, organisieren sollte. Als Erzeugnis dieser beiden Geschöpfe schlug ich mich halbwegs tapfer. Na gut, das geht jetzt wohl ein bisschen weit. Bis zu den jüngsten Auflösungserscheinungen warenmeine Eltern ein Musterbeispiel an Stabilität, um nicht zu sagen an gähnender Langeweile, gewesen. Ich musste eigentlich über die unvorhergesehenen Ereignisse froh sein. Vielleicht spielten sie die Verrückten, um nicht in einen Abgrund blicken zu müssen. Alles nur eine Gaukelei von besorgten Menschen, die alt wurden.
Unterwegs erfuhr ich, dass das Erziehungsministerium in Paris drei Rehabilitationszentren für psychisch Erkrankte unterhielt. Diese Einrichtungen hatten jeweils um die hundert Betten und leerten sich so gut wie nie. Die staatliche Bildung ist ein Apparat, der im gleichen Maße, wie er die Jugend heranzieht, die Lehrkörper in Depressionen stürzt. Mein Vater klärte mich auf, dass meine Mutter im Van-Gogh-Klinikum lag, nachdem sie fast im Camille Claudel gelandet wäre. Es war mir unbegreiflich, wie man Kliniken, in denen psychische Erkrankungen behandelt wurden, so benennen konnte. Wie man ihnen die Namen von Künstlern geben konnte, die dem Wahnsinn verfallen waren; eines Malers, der sich das Ohr abgeschnitten hatte, und einer Bildhauerin, die jahrzehntelang in psychiatrischen Anstalten eingeschlossen war. Welch schöne hoffnungsfrohe Botschaft. Warum nahm man keine zuversichtlich stimmenden Namen wie Picasso oder Einstein? Sollte ich je verrückt werden, will ich in kein Krankenhaus, das den Namen einer bedeutenden Persönlichkeit
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