Souvenirs
danach zumute … Er kapiert überhaupt nicht, dass es mir guttun würde zu sehen, wenn er etwas lebensfroher wäre und nicht immer nur an mir hängen würde … und wenn er mal seine Betroffenheitsmiene absetzen könnte.»
«Er macht sich Sorgen, sonst nichts.»
«Ja, ich weiß. Wir machen uns alle Sorgen.»
Wir schwiegen einen Augenblick. Dann sagte ich, dass ich mich freute, sie in so guter Verfassung zu erleben. Dass ich glücklich und erleichtert war.
«Beim nächsten Mal bringst du Louise mit, okay?»
«Sie fährt bald wieder. Die Schule fängt ja wieder an. Aber sie kommt bestimmt an Weihnachten.»
«Einverstanden. Sei immer lieb zu ihr. Das muss eine tolle Frau sein, wenn sie dich in ihr Herz geschlossen hat.»
Ich ließ mir den Satz auf der Zunge zergehen, und ich habe Lust, ihn noch einmal hinzuschreiben: «Das muss eine tolle Frau sein, wenn sie dich in ihr Herz geschlossen hat.» Meine Mutter hatte mir nie einen solch sanften Umgangston, solch eine Güte beigebracht. Ich war ungemein ergriffen, als hätte sie mir nach Jahren der Funkstille gesagt, dass sie mich liebte. Wie idiotisch, ständig auf die Zuneigung seiner Eltern zu warten. Es reichte, dass sie uns einen mickrigen Knochen hinwarfen, schon nagten wir freudig daran und wedelten mit dem Schwanz. Ich gab ihr einen Kuss und ging. Es war so angenehm, so zärtlich mit ihr gesprochen zu haben. Ich hatte den Eindruck, als habe sie sich aus wirklichem Interesse und nicht aus einem mütterlichen Liebesautomatismus heraus nach mir erkundigt. Im weiteren Verlauf des Tages fragte ich mich dennoch, ob ihre Sanftmut nicht das Produkt irgendeines Beruhigungsmittels gewesen war.
Ich fand meinen Vater beim Kaffeeautomaten wieder. Seine nervöse Art, mir aufzulauern, ließ darauf schließen, dass er mindestens sechs bis sieben Becher in sich hineingeschüttet hatte. Kaum drang ich in die Sphäre ein, in der seine Stimme bis an meine Ohren reichte, rief er mir zu: «Magst du einen Kaffee?» Das war tatsächlich seine erste Frage, noch vor allen anderen, zum Beispiel der, wie ich den Zustand meiner Mutter einschätzte. Er wiederholte:
«Magst du einen Kaffee?»
«…»
«Trink einen. Der Kaffee hier ist gut. Es ist verblüffend, aber dieser Automat macht echt guten Kaffee.»
Ich sagte Ja und trank den scheußlichen Kaffee. Er schmeckte irgendwie nach Persönlichkeitsstörung; seinem Aroma nach zu urteilen, wäre er lieber ein Tomatensaft geworden. Mit der Krankheit fertig zu werden, war an sich schwer genug, warum musste man mit diesem dubiosen Gesöff doppelt bestraft werden? Das war wie im Altenheim beim Bild von der Kuh; mit dem Unterschied, dass der Angriff hier nicht dem Seh-, sondern dem Geschmacksnerv galt. Ich brachte es nicht übers Herz, meinem Vater zu sagen, dass der Kaffee nicht gut war. Ich sah, wie sehr er meiner Zustimmung bedurfte. Schließlich nahm ich noch einen zweiten, um die Spannungen abzubauen, die sich in den vergangenen Tage in mir aufgestaut hatten. Nach einer Weile, als er immer noch keine Anstalten machte, mir eine Frage bezüglich meiner Mutter zu stellen, sagte ich zu ihm, dass es mich beruhigt hatte, sie in einem so erfreulichen Zustand anzutreffen. Er lächelte mich wortlos an. Jetzt würdealles gut werden. Ich umarmte ihn und ging im Vertrauen auf die Zukunft meiner Wege. Natürlich befand ich mich auf einem Holzweg.
54
Vincent Van Goghs Erinnerungen
Dank eines lebhaften Briefwechsels mit seinem Bruder Theo haben wir einen ziemlich guten Einblick in das Leben des Malers. Von frühester Jugend an begeistert er sich für die Religion in einem Maße, das seine Familie mit Sorge erfüllt. Er verschließt sich in seinem Eifer, entrückt der Wirklichkeit. Zu Gott unterhält er ein künstlerisches Verhältnis. Hält seine Berufung in erster Linie für eine spirituelle. Im Mai 1875, er ist zweiundzwanzig, kommt er nach Paris. Er besucht regelmäßig den Gottesdienst. In einem Brief an seinen Bruder erwähnt er, dass er eine «schöne Predigt» gehört hat: «Habt mehr Hoffnung als Erinnerungen; was es an Ernstem und Segensreichem in Eurem zurückliegenden Leben gegeben hat, ist nicht verloren; befasst Euch nicht mehr damit, sondern geht weiter.» Er sollte noch öfter auf die Worte dieses Geistlichen zurückkommen, in denen er geradezu eine Rechtfertigung dafür sah, mit der Vergangenheit Tabula rasa zu machen. Er erinnerte sich an die Notwendigkeit des Vergessens, das auch immer eine Form von Flucht bedeutet. Und
Weitere Kostenlose Bücher