Souvenirs
vielleicht liegt darin schon sein späterer Wahnsinn begründet.
55
Ich bin mir nicht sicher, ob ich in der Rekonstruktion dieser Zeit immer ehrlich bin. Wir waren glücklich, Louise und ich, es war eine Wonne, sich gegenseitig zu beschnuppern, und dennoch vergeudeten wir wertvolle Zeit mit kindischem Schmollen. Ich kann nicht einmal mehr genau sagen, warum wir uns stritten, jedenfalls schafften wir den Übergang vom Glauben an unsere Verbindung zum Zweifel an derselben binnen weniger als einer Sekunde. Ich dachte: ‹Wie hatte ich sie nur für die Frau meines Lebens halten können? Man muss den Tatsachen ins Auge sehen: Sie ist jämmerlich. Und ich war genauso jämmerlich zu glauben, dass dieses Luftschloss tatsächlich existierte. Ich war wohl nicht ganz bei Trost.› Ein paar Minuten zogen vorüber, wie eine Wolke, und eine neue Welt erschloss sich mir: ‹Wie konnte ich nur denken, was ich gerade gedacht habe? Die Frau ist doch spitze. Das war mir vom ersten Augenblick an klar. Und sie ist schön. Ich schaue sie an und stelle wieder einmal fest, ich liebe sie wahnsinnig, so wie ich sie auch vor einer Stunde wahnsinnig geliebt habe.› Und schon stürzte ich in wiederhergestellter Unschuld auf sie zu, und wir lagen uns in den Armen. Es war ein unermüdlicher Reigen. Die Liebe besänftigte mich, und die Liebe machte mich wahnsinnig, meine Gefühle schaukeltenalbern hin und her. Ich erinnere mich auch, dass mir eine furchtbare Müdigkeit in jenen Tagen in den Knochen lag. Dadurch, dass ich so gut wie gar nicht schlafen konnte, verschob sich meine Wahrnehmung. Manchmal wachte ich mitten in der Nacht auf und wollte mit Louise sprechen, aber des Morgens merkte ich, dass alles nur ein Traum gewesen war. Meine Träume nahmen die Form der Wirklichkeit an. Wenn ich die schlafende Louise betrachtete, dachte ich gelegentlich an all die anderen Frauen, die mir durch die Lappen gegangen waren. Die Schönheit des Augenblicks glättete die Wogen meines Lebens. Ich hatte das Gefühl, mich mit all dem auszusöhnen, was ich in der Vergangenheit so vermisst hatte. Die Vergangenheit schmeckte nicht mehr bitter.
Zehn Tage hatten wir wie in einem freien Land gelebt, in dem wir das Zepter schwangen. Wir trieben primitiv in einem selbstverliebten Meer dahin. Wir redeten ständig davon, wie wir uns kennengelernt hatten. Wir erzählten uns unablässig, wie unsere Liebe entsprungen war, als seien wir ein Mythos, der sich unserer Deutung unterziehen musste. Ich liebe diese Augenblicke der Liebe, in denen man sich unentwegt vorsagt, was man sowieso schon weiß. Man glaubt, die Wahrheit berge noch unzählige weitere verborgene Wahrheiten, die es zu entdecken gilt. Dennoch haben wir bei der Rekonstruktion unserer Begegnung sicherlich einige wichtige Details übersehen. Dann wurde es Zeit, sich zu trennen. Louise hatte ein anderes Leben, hatte einen Beruf, wohnte an einem anderen Ort: Louise hatte eineVergangenheit ohne mich. Wir hielten uns eng umschlungen; seltsamerweise redeten wir nur unnützes Zeug. Ich meine, wir redeten nicht darüber, wie es nun weitergehen sollte. Wir redeten nicht davon, wann wir uns wiedersehen würden, wer den anderen besuchen kommen würde. Unsere letzten Augenblicke verbrachten wir in der größtmöglichen Unbestimmtheit. Es war auch eine Art, die Angst zu verscheuchen. Ich fragte sie dafür[ ∗ ]:
«Magst du lieber das rote oder das blaue?»
«Ich glaub, das blaue gefällt mir besser.»
«Magst du lieber das helle himmelblaue oder das dunkle meerblaue?»
«Hm … das himmelblaue.»
«Den Himmel lieber mit oder ohne Wolken?»
«Ein, zwei Wolken. Nicht zu viele.»
«Willst du, dass man in den ein, zwei Wolken irgendwelche Formen erkennen kann?»
«Nein, ich mag es lieber, wenn eine Wolke keinen so ausgeprägten Charakter hat.»
«Soll deine Wolke ohne ausgeprägten Charakter zu Hause in Frankreich bleiben, oder soll der Wind sie weit forttragen?»
«Ich fänd’s schön, wenn der Wind sie nach Russland treiben würde. Und sie eine russische Wolke kennenlernt.»
«Na ja, aber in Russland gibt’s viele Wolken. Meinst du nicht, dass das für unsere französische Wolke ganz schönschwierig wird, in der Menge der russischen Wolken die passende zu finden?»
«Nein, es wird Liebe auf den ersten Blick sein. Das ist ganz klar. Es ist nämlich Sommer. Und am Himmel ist nur eine andere Wolke. Und das ist die, die zu ihr passt.»
«Woher weiß man eigentlich, ob eine Wolke männlich oder weiblich ist? Und
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