Souvenirs
überhaupt: Soll die Wolke lieber hetero- oder homosexuell sein?»
«Ich glaub, mir gefällt doch das rote besser.»[ ∗ ]
Ich begleitete sie zum Bahnhof. Am Bahnsteig küssten wir uns. Während ich meine Lippen auf die ihrigen presste, beeinträchtigte ein anderes Pärchen, das sich in gleicher Weise betätigte, mein Gesichtsfeld. Es ekelte mich bei diesem Anblick. Ich kam mir vor wie in einem Restaurant, wo ich am Abend des Valentinstags zusammen mit hundert anderen Liebespaaren das gleiche Menü aß. Dieser Bahnsteig gehörte mir und dieser Kuss uns ganz allein. Es kam nicht infrage, diesen Moment mit irgendjemandem zu teilen. Ich hatte den alleinigen Anspruch auf dieses Bild. Ich wollte nicht, dass es von diesem widerwärtigen Typen mit seinem buschigen Oberlippenbart, der dieses Pummelchen, das er wahrscheinlich im Internet kennengelernt hatte, voll auf den Mund küsste, befleckt wurde. Ich erklärte Louise, warum ich in diesem Augenblick vor ihr zurückwich. Sie sagte: «Du bist ja verrückt.» Ich verkniff es mir zu ergänzen: «Nach dir.» Das hätte ihrer Bemerkung die Spitze abgebrochen.Ich entgegnete nichts. Senkte den Blick. Hatte den Wunsch, meine letzten Augenblicke mit ihr in stiller Betrachtung ihrer Knöchel zu verbringen. Ihre Schuhe waren aber auch schön. Ich hätte die hohen Absätze ablecken können (damit hätte ich dem Oberlippenbärtigen die Show gestohlen; wer leckt schon am Bahnhof seiner Freundin die Stiefel?). Okay, sie hatte recht, ich war verrückt. Es machte mich verrückt, dass sie fuhr. Ich hatte keine Ahnung mehr, was aus uns werden sollte. Sie war meine große Liebe, und das stiftete eine große Verwirrung in mir. Jahrelang hatte ich mich schrecklich einsam gefühlt. Aber jetzt stellte ich fest, dass man sich erst zu zweit
so richtig
einsam fühlt. Die Knöchel stiegen in den Zug, und der Zug fuhr ab. Ich machte die grausame Entdeckung, dass der Bahnsteig sich nicht mitbewegte. Der Bahnsteig blieb in Paris, der Zug rauschte davon.
Am Abend schickte ich ihr eine SMS, in der ich fragte, ob sie gut angekommen sei. Keine Antwort. Daraufhin rief ich an, aber sie war nicht erreichbar, ich stieß nur auf ein Klingeln, das lange im leeren Raum widerhallte. Ich machte mir schreckliche Sorgen und verbrachte die Nacht damit, ihr sinnlos eine Nachricht nach der anderen zu schicken. Am Morgen probierte ich es in der Schule. Ich hatte die Direktorin am Apparat, die meinte, Louise sei in ihrem Unterricht.
«Sind Sie sicher?»
«Sie meinen Louise … die Lehrerin, die die dritte Klasse hat.»
«Genau. Ist sie heute Morgen aufgetaucht?»
«Ja … schon …»
«Haben Sie schon mal nachgesehen?»
«Also, ich habe heute Morgen mit ihr einen Kaffee getrunken. Worum geht’s denn genau?»
«Ach nichts … ich wollte bloß mit ihr reden.»
«Wollen Sie eine Nachricht hinterlassen? Kann sie Sie vielleicht zurückrufen?»
Ich legte einfach auf. Das hieß, Louise war noch am Leben. Louise war in ihren Alltag zurückgekehrt. Aber Louise ging nicht ans Telefon. Solche Leute machten mich wahnsinnig, die andere einfach so hängen ließen, die es nicht der Mühe wert fanden, eine kurze Nachricht zu schicken, damit man weiß, dass alles in Ordnung ist. Vor allen Dingen verstand ich nicht, warum sie mich ignorierte. Wir waren zusammen richtig glücklich gewesen. Das heißt, jetzt kamen mir Zweifel an diesem Glück. Sie hatte mich doch nicht getäuscht, das ging gar nicht. Warum verhielt sie sich so? Hatte ich von Frauen keine Ahnung? Verzweifelt wandte ich mich an Gérard, den die Sache überhaupt nicht zu beunruhigen schien. Er sagte etwas Rätselhaftes: «Der größte Liebesbeweis einer Frau ist ihr Schweigen.» Es war Teil seines Wesens, versöhnliche Töne anzustimmen. In dem Fall war ich mir jedoch nicht so sicher, ob er mit seiner Theorie auch richtiglag.
Ein Tag verging, ohne dass Louise etwas von sich hören ließ, und ein weiterer Tag. Ich fing an, mir meine Gedanken zu machen: Hatte ich mich schlecht benommen? Hatte ichetwas getan, das sie verletzt hatte? Ich analysierte jeden einzelnen Moment, den wir zusammen verbracht hatten, und ging noch einmal alles durch, was sie zu mir gesagt hatte. Indem ich ihre Sätze abklopfte, würde ich vielleicht eine Antwort auf all meine Fragen finden. Ich wirbelte viel Staub auf, aber wer hätte das an meiner Stelle nicht getan? Ich hatte geglaubt, der großen Liebe meines Lebens begegnet zu sein, und nun schien sich diese Liebe in nichts
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