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Sozialisation: Weiblich - männlich?

Titel: Sozialisation: Weiblich - männlich? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Hagemann-White
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liefern, sie vielmehr der Annahme zuwiderlaufen. Sie fordern zu weiterer Forschung auf, um die biologischen Ursachen, an die sie glauben, dennoch zu entdecken.
    Schließlich gibt es eine ausgiebige Diskussion um die mögliche Vererbung von Aggressivität am Y-Chromosom. Pikant ist an dieser Diskussion, daß sie – anders als der Großteil der Literatur über Geschlechtsunterschiede – ausdrücklich von der sehr hohen Beteiligung von Männern, an Gewaltkriminalität Notiz nimmt, jedoch zu belegen sucht, daß Kriminelle zusätzliche oder abnorm lange Y-Chromosomen besitzen. Ausgangspunkt der Theorie ist ein Fehlschluß. Argumentiert wird: Männliche Individuen sind aggressiver als weibliche; männliche Individuen haben Y-Chromosomen; die Ursache der Aggressivität mag am Y-Chromosom liegen; und schließlich (der Fehlschluß): Wenn ein Y aggressiv macht, müssen 2 Y noch aggressiver machen. Das ist ein wenig wie die Behauptung: Wenn ein Mensch mit fünf Fingern geschickt ist, muß einer mit sieben Fingern noch geschickter sein. Anomalien aller Art wirken aber nicht als schlichte Verbesserungen und Leistungssteigerungen des Normalen. Genug Magensäure hilft verdauen, doppelt so viel Magensäure wirkt eher umgekehrt.
    Mehrere Untersuchungen haben eine relativ hohe Zahl von XYY-Individuen in geschlossenen Anstalten festgestellt; ihr Anteil dort war höher als ihr vermuteter Anteil in der Bevölkerung insgesamt. Keineswegs alle dieser Individuen befinden sich dort, weil sie besonders aggressiv waren. Die überwiegende Mehrheit der XYY-Männer lebt nicht in Anstalten und ist nicht auffällig. Zur Diskussion steht allenfalls, ob der Genotyp XYY eine größere Wahrscheinlichkeit begründet, in irgend einer Form auffällig zu werden. Nur eine Studie liegt vor, die eine nicht durch Anstaltsaufenthalt vorausgelesene Stichprobe von Männern sowohl nach Genotyp wie auch nach Kriminalitätsrate untersucht. Von etwas über 4.000 Männern waren 12 vom Genotyp XYY; das ist an sich eine zu kleine Zahl, um mit Prozentanteilen zu argumentieren. 5 von 12 Männern waren straffällig geworden, jedoch nicht mit Gewaltdelikten
(Meyer-Bahlburg
1980, S. 125-126).
    Es hat den Anschein, als würden Individuen mit zusätzlichen Chromosomen eher mit abweichendem Verhalten auffallen – auch XXY-Männer befinden sich häufiger in geschlossenen Anstalten als statistisch zu erwarten wäre. Eine klare Beziehung zwischen irgend einer Art von Verhalten und den Chromosomen ist jedoch nicht zu erkennen. Die Theorie, daß ein zusätzliches Y-Chromosom die Aggressivität steigert, ist ohne zuverlässige Datenbasis – und würde ohnehin über Individuen mit nur einem Y nichts aussagen.
    Ganz ähnliche Probleme treten bei den Argumenten für eine hormonelle Verursachung der Aggression auf. Es werden Schlüsse gezogen von der Wirkung einer plötzlichen Dosis von Androgenen auf Ratten, die infolge der Kastration bei der Geburt bis dahin keine Androgene in ihrem System hatten, auf männliche Menschen, die ihr Leben lang den normalen Hormonspiegel hatten. Die relative „Überdosis“ läßt aber keine Schlüsse zu auf die Wirkung im Normalzustand (ganz abgesehen von dem Unterschied zwischen Ratten und Menschen).
    Eine Zuordnung der
Hormone
zum weiblichen oder männlichen Geschlecht ist außerordentlich problematisch. Es gibt kein Hormon, das ausschließlich bei einem Geschlecht vorkäme; das Verhältnis der Hormone zueinander ist bei Mädchen und Jungen vor der Pubertät sehr ähnlich; Androgene und Östrogene sind sich biochemisch so ähnlich, daß sie oft schwer unterscheidbar sind, und das Gehirn kann mindestens Androgene in Östrogene verwandeln. Die Forschung hierüber ist noch sehr jung. Es gibt Effekte, die als Wirkungen von Androgenen bekannt geworden sind, die bei späteren Versuchen auch mit Östrogenen hervorgerufen wurden
(Sherman
1978, S. 105-6;
Petersen
1979, S. 190-191). Da die Einschätzung der Wirkungsweise der Hormone noch sehr im Fluß ist (unter anderem weil es erst seit kurzem präzise Meßverfahren für das Vorhandensein von Hormonen im Körper gibt), sind alle Theorien über die Bewirkung von Geschlechtsunterschieden im Verhalten durch Hormoneinflüsse mehr als voreilig. Insbesondere ist daran festzuhalten, daß: 1. Tierexperimente keine Auskunft über die Wirkung der Hormone auf menschliches Verhalten liefern, weil es ganz besonders im emotionalen Bereich kaum Vergleichbarkeit gibt; und 2. Der Hormonspiegel durch Streß, Essen, Trinken,

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