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Späte Familie

Späte Familie

Titel: Späte Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeruya Shalev
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das Foto vertieft, als habe er es seit vielen Jahren nicht mehr angesehen, schau, wie jung sie sind, sagt er schließlich, sie haben noch keine Ahnung, was sie erwartet.
    Was hat sie denn erwartet, frage ich vorsichtig, und er sagt, die Hölle, er hat erwartet, dass sie ihn pflegt, und sie wusste überhaupt nicht, dass er krank ist, und ich frage, krank, was hatte er, und er sagt, er war psychisch krank, und ich frage weiter, wirklich krank? War er in der Klinik? Ja, sagt er, natürlich, er wurde ständig eingeliefert und entlassen, und während ich die traurigen Bilder betrachte, frage ich mich, was ich mit ihnen zu tun habe, er selbst ist mirnoch vollkommen fremd, und trotzdem werde ich von ihrer Geschichte angezogen, als würde sie etwas enthalten, was mir meine eigene Geschichte erklären könnte.
    Da ist der Vater bei einer Familienfeier, funkelnd in seiner kühlen Blässe, ein schöner Junge in einem weißen Hemd und dunklen Hosen lehnt an seinen Knien und weint, und ich frage, bist du das? Warum hast du geweint? Und er lächelt, das war damals meine Hauptbeschäftigung, das Weinen, und ich betrachte sein feines Gesicht, die kleine Faust, die das Auge verdeckt, der Mund ist zu einem Weinen verzogen, das ich fast zu hören glaube. Warum, frage ich, und er antwortet, warum? Wieder betrachtet er das Foto, als hoffte er, von dem kleinen Jungen eine Antwort zu bekommen, erklärt aber sofort mit monotoner Stimme, als habe er diese Erklärung schon oft abgegeben, was hätte ich sonst tun sollen, mein Vater war nie richtig anwesend, meine Mutter hat irgendwie für die körperlichen Bedürfnisse gesorgt, aber gefühlsmäßig war sie für uns nicht vorhanden, ich glaube, sie hatte Angst, wir könnten auch nicht in Ordnung sein, meine Schwester und ich, sie war uns gegenüber misstrauisch, weil auch sein Blut in unseren Adern floss.
    Was heißt das, frage ich, hat sie sich nicht um euch gekümmert, und er sagt, kaum, sie hatte Angst, sich an uns zu binden, ihrer Meinung nach waren wir angesteckt, waren Teil der Falle, die er und seine Familie ihr gestellt hatten, sie war ein einfaches orientalisches Mädchen, sie hatte keine Ahnung, in was sie hineingeraten war, ich mache ihr keine Vorwürfe mehr, fügt er schnell hinzu, heute kann ich verstehen, wie sehr sie gelitten hat, aber damals war es schwer, wir hatten niemanden, an den wir uns halten konnten, siehst du, da war er schon einige Male in der Anstalt gewesen, man erkennt ihn nicht mehr, und ich betrachte den schweren Unterkiefer, den erloschenen Blick, unter dem Hemdzeichnet sich ein schwammiger Bauch ab, nichts ist von seiner Schönheit geblieben, und da ist auch wieder sein Sohn, ein bisschen älter geworden, der ihn besorgt ansieht, diesmal mit trockenen Augen, nur auf ihn konzentriert, dunkel wie seine Mutter und gut aussehend wie sein Vater.
    Wie du ihn betrachtest, sage ich, als wärst du sein Arzt, und er sagt, ja, ich hatte keine andere Wahl, als zu lernen, seinen seelischen Zustand zu erkennen, wann man sich vor ihm in Acht nehmen musste, wann es besser war, mit offenen Augen zu schlafen, wenn es ihm gut ging, war niemand reizender als er, aber wenn er zusammenbrach, bedeutete das Lebensgefahr, er seufzt, was für eine Hölle, und legt die Hand an die Stirn, als wäre er ihr, den Rucksack auf den Schultern, gerade jetzt erst entkommen, nicht seinem eigenen Zuhause, wo er mit seiner Frau und seinen Kindern gelebt hat. Schau, sagt er, plötzlich wieder wach, eilig, als handle es sich um einen vergänglichen Anblick, ein Vogel auf der Fensterbank, der Blick eines Babys, das ist das letzte Bild von ihm, und ich betrachte traurig das Gesicht, das immer hässlicher wird, doch ausgerechnet auf seinem letzten Foto ist die erstaunliche Anmut zu sehen, die an das erste Bild erinnert. Woran ist er gestorben, frage ich, ausgerechnet an einer ganz gewöhnlichen Krankheit, an Krebs, er war so stolz, als der Krebs diagnostiziert wurde, als wäre das der Beweis, dass er wie alle anderen war, und als er erkannte, dass die Verrücktheit ihn nicht vor dem Tod schützen würde, war er bereit, auf die Verrücktheit zu verzichten, aber da war es schon zu spät.
    Also seinetwegen suchst du nach Blutspuren, bemerke ich und sehe ihn vor mir, den Rücken gebogen wie eine Katze, die aus der Kloschüssel trinken will, und er sagt, vermutlich, und seinetwegen bin ich auch Therapeut

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