Späte Familie
sehen, vielleicht auch schon vorher, wenn in der Klasse der Sederabend gefeiert wird, und er beobachtet, wie ich in Gedanken versinke, wo warst du eigentlich, fragt er, und ich sage, in Barcelona, bei einem Kongress, und er fragt, ein Kongress von Archäologen? Zu welchem Thema? Und ich wundere mich, dass er mehr über mich weiÃ, als ich zu erzählen Zeit gehabt habe. Der Auszug aus Ãgypten, sage ich, und er zitiert aus der Hagada, ihr habt vom Auszug aus Ãgypten erzählt, bis es Zeit wurde für das Morgengebet, und ich lache, ja, so ungefähr, das Gefühl, etwas versäumt zu haben, brennt in meinem Gesicht, es fällt mir schwer, ihn anzuschauen, ich senke den Blick zu dem blauen Keramikteller, ein paar Stücke rote Paprika liegen darauf, betonen seine Leere, das Nichtwissen quält mich, wie wird es mir gelingen, mehr über seine Lage zu erfahren?
Ich versuche es auf einem Umweg und frage, passiert euch das oft, dass ihr so streitet, und er erstaunt mich wieder mit seiner Offenheit, viel zu oft, jedes Mal wieder erwacht in ihr dieser Teufel, und sie beschlieÃt, dass ich eine andere habe, und dann macht sie mir Szenen, wie ich sie dir nicht wünsche, sogar vor den Kindern, er seufzt, und ich kann mich schon nicht mehr beherrschen, obwohl ich mich vor seiner klaren Antwort fürchte. Hast du eine andere oder nicht, frage ich mit leiser Stimme, fast unhörbar, und er sagt, ist das dein Telefon, das schon die ganze Zeit klingelt, oderkommt das vom Nebentisch? Und ich wühle in meiner Tasche, dort klingelt mein Handy wie ein unaufhörlich zwitschernder Vogel, zehn Anrufe in Abwesenheit, teilt es mir mit, und sofort fängt es wieder an, ich höre Amnons Stimme, diesmal klingt sie nicht mehr gelassen, sondern aggressiv und vorwurfsvoll, es ist die vertraute Stimme aus der Zeit vor der Trennung, sag mal, bist du noch normal? Wo bist du? WeiÃt du, wie viel Uhr es ist? Gili ist bei Jotam und wartet schon seit Stunden auf dich, und ich stottere, aber du hast doch gesagt, ich soll nicht sofort hingehen, stimmt, aber jetzt ist es zehn Uhr abends und du bist nicht zu Hause und gehst nicht ans Telefon und der Junge wartet, ich habe gedacht, du bist so wild darauf, ihn zu sehen, stichelt er, er genieÃt es, mit einer Nadel in den Ballon meiner Mütterlichkeit zu stechen, den ich vor seinen Augen jahrelang aufgeblasen habe.
Natürlich bin ich wild darauf, ihn zu sehen, sage ich schnell, aber mir ist etwas Dringendes dazwischengekommen und ich habe vergessen, auf die Uhr zu schauen, ich gehe sofort hin, sage ich und beende das Gespräch, bedrückt schaue ich Oded an, ich habe ganz vergessen, dass Gili noch bei euch ist, sage ich, mir ist gar nicht aufgefallen, dass es schon so spät ist, ich muss los, ihn holen, da siehst du, was passiert, ich sitze mit dir zusammen statt mit ihm, widerwillig stehe ich auf, meine Beine sind schwer, als hätten sie die Fähigkeit zur Bewegung verloren, wie macht man das, gehen, frage ich, und er antwortet ernst, erst das eine Bein, dann das andere, und ich nehme meinen Koffer, soll ich zu Hause etwas ausrichten? Er lächelt, gib Jotam einen Kuss von mir.
Wie kann ich ihm einen Kuss von dir geben, sage ich, dafür musst du mich erst küssen, und er springt auf, zieht mich an sich, streicht mir die Haare aus der Stirn und drücktseine warmen Lippen darauf, mit einer Bewegung, die ich schon kenne, als drückte er einen Stempel auf, die Tätowierung einer kurzen kostbaren Zeit, und ich habe das Gefühl, als würde mein ganzer Körper von seinem Kuss verschlungen, ich klammere mich an seinen Rücken, sehne mich danach, so mit ihm stehen zu bleiben, bis die Lichter ausgemacht werden, bis das Café geschlossen wird, mir wird schwindlig von dem Gefühl, etwas versäumt zu haben, wie kostbar und kurz war dieser Abend, und er wird nie wiederkehren. Bald wird er seine düsteren Alben einpacken und seiner Wege gehen, und der Zauber wird sich auflösen und vergessen sein, nie wieder wird er so verwirrt und verletzlich sein, nie wieder wird er ein fremdes Ohr so nötig haben, hätte ich nur so getan, als wäre ich noch nicht zurückgekommen, als hätte sich der Flug verschoben, hätte ich heute Abend noch bei ihm bleiben können, bevor sein neues Leben ohne mich beginnt, und ich betrachte ihn, als er sich hinsetzt und einen letzten Schluck nimmt, du gehst heute nicht zurück, frage ich, und er sagt,
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