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Späte Familie

Späte Familie

Titel: Späte Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeruya Shalev
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komm, lass uns heiraten, würde er wohl auch sagen, ja, warum nicht, und wenn nicht zu mir, dann zu jemand anderem, aber ich bin es, die unten gewartet hat, mein Gesicht war das erste, das er gesehen hat, als er das Haus verließ, und wir überqueren die Straße und betreten das Café, das wir beide so gut kennen. Hier, durch dieses Fenster, habe ich euch an Jotams Geburtstag beobachtet, hier brannte meine Eifersucht auf der nassen Straße zwischen den schmutzigen Schneeresten, hier hat sie sich den Bürgersteig entlanggeschlängelt wie eine Feuerzunge, und ich führe ihn absichtlich zu dem Ecktisch, an dem sie damals gesessen haben, eine heile Familie, wie man sie an manchen Tagen im Zoo beobachten kann, ein Löwe, eine Löwin und ihre beiden Jungen, den neugierigen Blicken dargeboten, und als er mir nun gegenübersteht, verwirrt und wütend, den Rucksack wie einen Höcker auf dem Rücken, stehe ich auf und nehme ihn herunter, wie ich den Schulranzen von Gilis schmalem Rücken nehme, ich ziehe ihn von seinen Armen und stelle ihn neben meinen Koffer, und zu meiner Überraschung ist er schwer, und ich frage, was hast du da drin, Steine? Und er sagt, Alben, und ich fange an zu lachen, das ist es, was du mitgenommen hast, Alben?Keine Kleidungsstücke zum Wechseln und keine Zahnbürste? Zu meiner Freude stimmt er in das Lachen ein, es war ein spontaner Entschluss, ich wusste doch nicht, was man in so einem Fall mitnimmt, ich habe mich umgeschaut und überlegt, was mir überhaupt wichtig ist, was ich im Fall eines Brandes retten würde.
    Zeig sie mir, bitte ich, und er fragt, interessiert dich das wirklich oder hast du nur Angst, wir hätten nichts, worüber wir sprechen können? Beides, bekenne ich, und er streckt die Hand nach seinem Rucksack aus und zieht fünf dicke Alben heraus, wie die fünf Bücher Moses, und legt sie aufeinander auf den Tisch zwischen uns, und als die Kellnerin kommt, werfen wir schnell einen Blick auf die Speisekarte, vor ihren ungeduldigen Augen, genau wie sie will ich hören, was er bestellt, mir scheint, als würde das den Charakter unseres Treffens bestimmen, und als er einen doppelten Whisky und einen Teller mit Sandwiches bestellt, seufze ich erleichtert, das ist zwar nicht der Businesslunch, der den ganzen Tag angeboten wird, aber auch kein kurzer Espresso. Teilen wir die Sandwiches, fragt er, als ich nur etwas zum Trinken bestelle, und ich nicke sofort, als wäre das der großzügigste Vorschlag, den man mir je gemacht hat, mit ihm die Toastscheiben, das kalte Zitronenwasser und den doppelten Whisky zu teilen, und nicht nur das, auch das dreifache Leid, die Angst, die Panik, den Verlust. Teil von ihm zu sein, Teil seines Lebens, mein Leben vor seinen Augen zu zerlegen und stückchenweise vor ihm auszubreiten. Auch wenn du das blutige Steak bestellt hättest, würde ich es mit dir teilen, auch wenn du nichts bestellt hättest, würde ich das Nichts mit dir teilen, und als ich ihn betrachte, den mageren Mann im grauen Pullover, der mir gegenübersitzt, die Haare, die ihm in die Stirn fallen, das blasse, aufgewühlte Gesicht, weiß ich, dass dies die kurze, kostbare Zeit ist, inder eine Beichte wie eine Einladung zum Glück klingen wird, das ist die kurze Zeit, in der eine Stunde in einem armseligen Café wie der Finger Gottes ist, nur solche Zeiten sind es wert, dass man sich nach ihnen sehnt, denn wenn das Wunder einmal geschehen kann, klar, erschütternd, treffsicher, trägt es in sich das ganze Maß an Gnade, das jedem von uns zugeteilt ist.
    Er klappt das erste Album auf, der harte Ledereinband zerfällt fast unter seiner Berührung, und deutet mit seinem schmalen Finger auf das offizielle Foto eines Brautpaares am Hochzeitstag, das Gesicht der Braut ist einfach und unschuldig, trotz ihrer erkennbaren Bemühungen ist sie nicht schön, noch nicht einmal reizvoll, während der Mann klar und schön aussieht, er hat ein spöttisches Lächeln auf den Lippen, neigt sich auf eine unangenehme Art zur anderen Seite, die Kluft zwischen ihnen ist so auffallend, dass jedes Kind sie bemerken müsste. Deine Eltern, frage ich, und er nickt schweigend, und ich frage, leben sie noch, und er sagt, leben, sie haben nie gelebt, und ich betrachte ihn erstaunt, fürchte, die Grenze zwischen Interesse und Aufdringlichkeit zu überschreiten, beobachte seinen Gesichtsausdruck, während er sich in

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