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Späte Familie

Späte Familie

Titel: Späte Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeruya Shalev
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zufällig gefundenen, überflüssigen Stocks, der mit unserem Abschied bestimmt schon seinen Reiz verloren hat und einfach auf der Wiese liegen gelassen wurde, erweckt in ihm einen unerträglichen Kummer, und ich ziehe ihn mit Gewalt hinter mir her und habe das Gefühl, dass mir der Arm aus der Schulter gerissen wird, es reicht, schimpfe ich, ich kann dieses Geheule nicht mehr hören, und er brüllt, und ich kann dein Geschrei nicht mehr hören, du bist eine böse Mutter, wegen dir habe ich meinen Stock verloren, du hast Jotam lieb, nicht mich.
    Wieso denn, widerspreche ich schnell, ich finde nur, dass man momentan bei Jotam nachsichtig sein soll, ich kann dir nicht sagen, warum, und er heult, ich weiß, warum, ich weiß es besser als du, was ist denn schon dabei, wenn sein Papa ausgezogen ist, mein Vater ist auch ausgezogen, und niemand hat deswegen bei irgendetwas nachgegeben, und ich atme erstaunt die neue Nachricht ein, woher weißt du, dass sein Vater ausgezogen ist? Und er sagt, Jotam hat gesagt, dass seine Eltern sich scheiden lassen, Jotam weiß es also schon, sie haben es ihm bereits gesagt, warum hat sie sich dann mit mir darüber beraten wollen, wie man es ihm am besten erklären soll, und ich versuche, mich zu erinnern, wie sie ihre Frage formuliert hat, war es wirklich ein alltägliches Gespräch zwischen zwei Frauen über ihr gemeinsames Schicksal, oder hat sie mich auf die Probe stellen, mir Schuldgefühle machen wollen?
    Vor der blasser werdenden Sonne gehen wir weiter, ihre Strahlen verlieren schnell an Wärme, berühren zum Abschied meine Haut, und ihre Berührung ist trügerisch und lässt mich erschauern, seine wütende Stimme begleitet mich, er hat damals nicht nachgegeben, warum soll ich jetzt nachgeben, denk dran, dass du mir ein Geschenk kaufst, du hast es versprochen, ich werde ihm den Stock noch abnehmen, was bildet er sich ein, ich war es, der ihn entdeckt hat, was für ein blöder Junge Jotam ist, ich bin überhaupt nicht sein Freund, ich hasse ihn, und ich hasse auch seinen Vater, und ich bleibe erstaunt stehen, was, was hast du gesagt? Und er wiederholt, ich habe gesagt, dass ich Jotams Vater hasse.
    Wie kannst du einen Menschen hassen, den du gar nicht kennst, protestiere ich, was hat er dir getan? Er sagt, natürlich kenne ich ihn, ich kenne ihn besser als du, einmal war ich bei ihnen und er hat geschrien und Jotams Mama hat geweint, und es ist auch nicht schön, dass er seinen Sohnverlässt, und ich sage, er verlässt seinen Sohn nicht, Eltern, die sich scheiden lassen, verlassen doch nicht ihre Kinder, so wie Papa und ich dich nicht verlassen haben, stimmt’s? Er zögert absichtlich mit seiner Antwort, bis sich die Frage von allein verflüchtigt hat, er lässt den Straßenrand nicht aus den Augen, auf der Suche nach einem neuen Stock.

15
    Er spricht mit mir, und seine Stimme klingt wie ein Segensspruch, er schaut mich an, und sein Blick ist wie ein Versprechen, er berührt mich an der Schulter, und es ist, als würden seine Hände verständnisvoll und geduldig den Stacheldrahtzaun entfernen, den ich vor ihm errichtet habe, den Stacheldrahtzaun, der vor uns beiden steht, vielleicht gibt es ja so etwas wie ein Wir, es scheint, dass es das gibt, denn sofort nachdem das Licht in Gilis Zimmer gelöscht ist, höre ich das Klopfen an der Tür, und da steht er in seinem schwarzen Mantel, mit dem schmalen müden Gesicht, dem beherrschten Lächeln, in seiner aufrechten angespannten Haltung, als wäre seine Anwesenheit in meinem Haus eine Selbstverständlichkeit, an diesem Abend, an allen kommenden Abenden, und er sagt, ich hab schon gedacht, das Licht geht nie aus, was liest du ihm vor dem Einschlafen vor, »Krieg und Frieden« von Anfang bis Ende? Er hat zwei silbrige Tabletts in den Händen, gut verpackt, ich habe Essen aus dem Café mitgebracht, hast du schon gegessen? Nein, sage ich, ich habe auf dich gewartet, denn auch wenn ich nicht gewagt habe zu warten, habe ich gewartet, auch wenn ich nicht gewagt habe zu hoffen, habe ich gehofft, und wir sitzen nebeneinander auf dem Sofa, den Rest Whisky von gestern Abend in den Gläsern, beugen uns über die noch immer heißen Aluminiumtabletts und stecken die mitgebrachten Plastikgabeln hinein, als wäre auch das ein Picknick. Vielleicht will er auch diesmal keine Spuren hinterlassen und hat deshalb Wegwerfbesteck mitgebracht, und

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