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Späte Familie

Späte Familie

Titel: Späte Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeruya Shalev
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Bett, und dazu noch ein Bruder oder eine Schwester, ein Hund oder eine Katze, und wenn ich ihm die banalen Sätze vorlese, zittert meine Stimme vor Angst, dass diese Wörter ihn in seinem Koma des Sichabfindens stören könnten, ihn an das erinnern, was er einmal hatte.
    Und da kommt er stolz aus der Schule zurück, in derHand ein buntes Plakat, das er für das Schlafzimmer gemalt hat. Mit zittrigen Buchstaben steht darauf geschrieben, das Zimmer von Papa und Mama, die Buchstaben hängen im Nichts, als schwebten sie im All, und ich versuche zu lächeln, was für ein großartiges Plakat, und er sagt, häng es auf, Mama, warum hängst du es nicht auf, und ich würde am liebsten sagen, wo denn, mein kleiner Freund, wo soll ich es aufhängen? Hast du nicht verstanden, dass es bei uns ein solches Zimmer nicht mehr gibt? Doch ich presse die Lippen zusammen und hänge das Plakat an die Tür, obwohl es eine Täuschung ist, und jeden Abend, wenn ich ins Schlafzimmer gehe, stolpere ich angesichts dieser Täuschung, kämpfe gegen das Bedürfnis, das Plakat von der Tür zu reißen oder zumindest Farbstifte aus seinem Federmäppchen zu holen und den Text zu korrigieren, das war einmal das Zimmer von Papa und Mama. Du hättest zwei Plakate machen müssen, das ist das Zimmer von Papa und das ist das Zimmer von Mama, aber ich wage nicht, es auszusprechen, er ist stolz auf sein Werk, als wäre es eine einfache, unverbindliche Zeichnung, eine Anhäufung inhaltsleerer Buchstaben, er besteht auf seinem Recht, so zu sein wie alle anderen Kinder.
    Gibt es denn in seiner Klasse keine anderen Kinder aus geschiedenen Ehen, frage ich mich verwundert, und es stellt sich heraus, dass es im Gegensatz zu den erschreckenden Statistiken, die immer wieder in der Zeitung veröffentlicht werden, und im Gegensatz zu dem Eindruck, den ich die ganzen Jahre gehabt habe, kein einziges anderes Kind geschiedener Eltern in Gilis Umgebung gibt. Wenn ich ihn zu den Wohnungen seiner neuen Freunde bringe, deren Zahl sich mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit vergrößert, versuche ich gleich nach meinem Eintritt Näheres über die familiären Verhältnisse herauszubekommen, ich plaudere mitder Mutter und bewundere die Wohnungseinrichtung, bloß damit ich ein wenig herumlaufen und nach Hinweisen suchen kann, ich schaue mich schnell um, suche nach Spuren eines Mannes, manchmal ist es ein Paar Sandalen, das in einer Wohnzimmerecke steht, ein Jackett, das an der Garderobe hängt, ein andermal der Geruch von Rasierwasser. Manchmal sagen die Frauen es von selbst, mein Mann ist bei der Arbeit, mein Mann ist im Ausland, mein Mann ist beim Reservedienst, oder es erscheint zu meinem Verdruss auch der Ehemann selbst, dann verabschiede ich mich schnell, bleibe weiterhin ohne Komplizin, und in jedem Haus sehe ich auf der Schlafzimmertür das bunte Plakat, das ist das Zimmer von Papa und Mama, aber nur bei uns zittern die Buchstaben wegen der Täuschung. So folge ich meinem Sohn von Wohnung zu Wohnung, prüfe jene Familien aus der Nähe, die ich zum ersten Mal bei der Feier zum Empfang des Schabbat gesehen habe, und versuche abzuschätzen, wie groß die Chancen dieser Paare sind, zusammenzubleiben, lasst euch schon scheiden, murmle ich, warum klebt ihr aneinander, trennt euch ein bisschen, was macht es euch schon aus, dann hätte Gili einen Leidensgenossen, dann wäre er nicht die einzige Ausnahme, der Gedanke bedrückt mich, dass all diese Kinder, egal ob groß oder klein, hellhaarig oder dunkel, ruhig oder laut, verwahrlost oder gepflegt, das haben, was mein Sohn schon nicht mehr hat, nämlich eine Familie.
    Und nachts wache ich entsetzt auf, mit dem Gefühl, dass das ganze Bett samt Kissen und Decken und Matratzenfedern lautstark auf mein wie verrückt klopfendes, rebellierendes Herz antwortet, ich habe eine Familie begraben. Ich selbst, höchstpersönlich, habe eine Familie begraben. Es stimmt, es war eine Familie, die ich nicht besonders liebte, eine Familie, die mehr Probleme als Kinder hervorbrachte,mehr Streit als Nächte der Lust, mehr Enttäuschung als Freude, doch reichen diese Gründe wirklich aus, die Gutenachtgeschichten gefährden mich, nicht ihn, das Plakat auf der Tür bedroht mich, nicht ihn, die leeren Regalfächer stören meine Augen, nicht seine, es geht ihm gut, Papa, es geht ihm gut, er wird nicht ausgelöscht werden, aber was ist

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