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Späte Familie

Späte Familie

Titel: Späte Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeruya Shalev
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mit mir?
    Er hat sich gegen unsere Trennung, die ihm aufgezwungen wurde, nicht gewehrt, aber gegen jeden anderen Zwang wehrt er sich mit aller Kraft, mit einer Dickköpfigkeit, die ich nicht an ihm kenne, die erst in diesem Herbst geboren wurde, sechs Jahre nach seiner eigenen Geburt. Er weigert sich, morgens aufzustehen, er weigert sich, schlafen zu gehen, sich zu waschen, sein Zimmer aufzuräumen. Wenn seine vielen neuen Freunde ihn besuchen, ist er fröhlich und strahlend, aber sobald sie gegangen sind, zeigt er mir ein zorniges Gesicht, und ich betrachte ihn zögernd, voller Angst, seinen Ärger zu wecken, während ich früher, in der Zeit der Familie, ungeduldig darauf wartete, dass die Eltern seines kleinen Freundes ihren Sohn abholten, damit wir vor dem Schlafengehen selbst noch Zeit zum Spielen und zum Reden hätten. Sobald die Tür hinter dem kleinen Jungen zugefallen war, der meistens heulte, wenn er geholt wurde, und unwillig nach seiner Mutter schlug, umarmte mich mein Sohn und zwitscherte mit seiner glücklichen Vogelstimme, zog mich auf den Teppich, um mit mir zu spielen, oder zum Sofa, um sich auf meinen Schoß zu setzen, oder zum Ranzen, um ein Bild hervorzuziehen, das er gemalt hatte, und ich, verzaubert von seinem Charme, hingerissen von dem klangvollen Geplapper, gab mich der verborgenen Quelle hin, von deren Existenz ich nichts gewusst hatte, sehnte mich nach nichts anderem, ich wollte immer nur diese Nähe, die vollkommener war als alles andere. Jedes Wort, das ihmüber die Lippen kam, liebte ich, sein warmes Lachen, seine Spucke, die kleinen Muttermale auf seinen Wangen, seine Berührung, und nun, da er mir ein zorniges Gesicht zeigt, lasse ich schweigend das Badewasser ein und frage mich, was in Zukunft von dieser Liebesgeschichte bleiben wird, von der ich nie geglaubt hätte, sie würde einmal zu Ende gehen, die eigentlich dazu bestimmt war, so oder anders mein ganzes Leben lang zu dauern.
    Morgens wacht er müde und zornig auf, reibt sich die vom Schlaf verklebten Augen, schaut sich düster um, als suche er einen Grund zum Streiten. Zieh dich an, Gili, dränge ich und lege die Kleidungsstücke auf sein Bett, er verzieht das Gesicht, verlangt ausgerechnet das, was er gestern anhatte, zerrt die schmutzigen Sachen aus dem Wäschekorb, lehnt es ab, sich die zerzausten Locken zu kämmen, will nichts essen. Was möchtest du auf dein Schulbrot, frage ich, und er beschwert sich, ich habe die Nase voll von diesen Fragen, das ist die blödeste Frage der Welt, und ich sage, warum bist du so gereizt, sag einfach, was du willst, Käse, Erdnussmus oder Schokocreme? Und er fängt an zu schreien, warum streitest du mit mir, du willst doch nur mit mir streiten, ich widerspreche, wieso streiten, ich frage nur, was du auf dein Schulbrot möchtest, und er murmelt, ist mir egal, was du willst, aber wenn wir schon an der Tür stehen, schaut er in seiner Tasche nach, zieht die Frühstückstüte heraus und wirft sie auf den Boden, ich will kein Käsebrot, jammert er, ich will Schokocreme, und ich bereite schnell ein neues Brot, das, wie ich weiß, ein ähnliches Schicksal erleiden wird, und am Schluss gebe ich es auf zu fragen und schmiere ihm jeden Morgen einfach zwei Brote.
    Tatsächlich ist die Liebe unter den schweren, unbehauenen Steinen von Reue und Schuld, von Trauer und Sehnsucht, Kränkung und Enttäuschung schwer zu identifizieren, sogardiese offenbar so einfache, die natürlichste von allen, die Mutterliebe. Dieser Schatz, der für mich heilig war, dessen Kraft mich immer in Staunen versetzt hat, der mich in den letzten sechs Jahren geschützt hat wie eine schusssichere Weste und zwischen mir und dem Rest der Welt stand, sogar zwischen mir und Amnon, gleitet mir aus den Händen, denn wenn wir beide auf dem Gehweg vor unserem Haus Eis essen, schmeckt es nicht mehr so süß wie früher, und wenn wir zusammen im Hof spielen, versinke ich nicht mehr im Spiel, wie ich es damals tat, ich betrachte ihn nicht mehr mit demselben Erstaunen und derselben Bewunderung wie einst. Mit düsterer Langeweile schaue ich auf die Uhr, wann wird es endlich Zeit, dass er schlafen geht, wann kann ich mich wieder meinem Schmerz widmen, fern von seinen prüfenden Augen, und begreifen, dass diese Liebe, die zwischen uns erblühte und an Kraft zunahm, nicht zwischen zwei Menschen existieren kann, sie braucht einen dritten, nun, ohne Amnon,

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