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Späte Familie

Späte Familie

Titel: Späte Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeruya Shalev
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ein gemeinsames Problem, und als ich aufstehe und das Rezept aus seiner Hand nehme, habe ich das Gefühl, als gäbe ich ihm etwas zurück, als wären meine Hände nicht leer, als legte ich meine überflüssige Seele in seine Hand, dieses gefangene, störende Zwittergeschöpf, und als stünde er mir gegenüber und schaukelte sie hin und her, bis sie sich beruhigt und aufhört zu weinen.

9
    Die Tabletten hole ich noch am selben Abend und bitte die erstaunte Apothekerin, sie mir als Geschenk zu verpacken, und sie betrachtet mich zweifelnd, mich und das Medikament und die Unterschrift des Arztes, und sie sieht aus, als würde sie, ginge es nach ihr, mir etwas völlig anderes verschreiben. Als Geschenk verpacken, das ist hier nicht üblich, murrt sie, aber sie findet goldenes Einwickelpapier und ein rotes Band, ihre Hände erledigen diese Arbeit nur widerwillig, und ich lege das verführerische Päckchen auf die Kommode neben meinem Bett und packe es nicht aus, ich betrachte es, bevor ich die Augen zumache, und sofort, wenn ich sie öffne, macht es mir Spaß, es wie zufällig zu sehen, als hätte ich ein großartiges Geschenk bekommen, das geduldig auf mich wartet. Seine Anwesenheit neben meinem Bett beruhigt mich, ein schmales eingewickeltes Päckchen, es sieht aus, als wären zwei goldene Ohrringe darin oder ein Medaillon, bereit, Tausende von Jahren zu warten, wie der Schmuck von Troja, der tief in der Erde Kleinasiens wartete, während die ganze westliche Welt glaubte, es handle sich nur um eine Legende.
    Ich habe nicht gewusst, dass diese Tabletten so schnell wirken, sagt Dina erstaunt, als sie nach ein paar Tagen kommt, einen Topf mit Suppe in der einen Hand und einen Kuchen in der anderen, es dauert angeblich drei Wochen, nicht wahr? Und ich ziehe sofort ein düsteres Gesicht, um Erklärungen zu vermeiden, auch vor mir selbst, welcher Art die Erleichterung ist, die mich plötzlich umgibt, leicht und dumpf, aber doch sehr real, vielleicht hat ja das Wissen, dasses ein Medikament gibt und sich in meiner Reichweite befindet, schon genügt, um meinen Kummer zu mildern, um den heulenden Schakal in ein gehorsames Hündchen zu verwandeln, oder ich habe, ohne es zu merken, schon den tiefsten Grund erreicht, die Schicht, von der aus man nur nach oben steigen kann, oder es ist die Erinnerung an jenen Morgen, die in mir aufgestiegen ist und mir die Möglichkeit einer vergessenen Existenz vorhält, nämlich dass ich weiterleben kann, auch wenn es unmöglich ist, den Verlust ungeschehen zu machen, und dass der Fehler vielleicht nicht ganz so umfassend ist, auch das Leid nicht, und es scheint, als dringe durch die vollständige Dunkelheit, in der ich wochenlang gefangen war, ein Funke Licht, der zwar noch nicht den ganzen Raum erhellen kann, aber es doch ermöglicht, zwischen Dunkel und Dunkel zu unterscheiden, zwischen der Dunkelheit des Morgens und des Mittags und der Dunkelheit der Nacht, und in diesem schwachen Licht bemühe ich mich, etwas wahrzunehmen, Gegenstände, Stimmen, Gesichtszüge, ich versuche zu existieren.
    Zu existieren inmitten der Widersprüche, die mich umgeben, denn auch wenn jetzt alles so schlimm ist, beweist das nicht, dass es früher besser war, auch nicht, dass in Zukunft nicht wieder alles gut sein kann, Leid bezeugt nicht zwangsläufig Reue, und Reue nicht unbedingt einen Fehler, und ein Fehler nicht eine leere Zukunft, meine jetzige Einsamkeit bezeugt nicht, dass ich nicht auch während meiner Ehe einsam war, die Schuld, unter der ich zusammenbreche, bezeugt keine Sünde.
    Aus der teuflischen Sicherheit des Fehlers, der für meinen Zusammenbruch verantwortlich ist, ergibt sich nun eine Frage, manchmal wird sie böswillig gestellt, manchmal angstvoll und manchmal traurig, und ich verstehe, dass diese Frage mein Leben lang gestellt werden wird, wenn auchunhörbar, und nach meinem Tod werde ich sie an meinen einzigen Sohn vererben, nämlich ob ich recht daran getan habe, mich eines Tages zu erheben und meine Familie zu zerreißen, ob meine Handlung gerechtfertigt war, ob sie zum Guten führte, ob ich mir mehr wünschen durfte, als ich hatte, ob ich eines Tages mehr bekommen würde, als ich hatte, ob ich überhaupt wusste, was ich hatte, es scheint, als würde es noch Jahre dauern, um zu erkennen, ob unsere Ehe so hoffnungslos war, wie ich vor der Trennung gedacht habe, oder so wunderbar und

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