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Späte Familie

Späte Familie

Titel: Späte Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeruya Shalev
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entdecke ich ein Plakat von einem Museum, das ich oft besucht habe, das Bild des dreisprachigen Steins von Rosetta, der maßgeblich dazu beitrug, dass man die Geheimnisse der alten Ägypter zu entziffern lernte, er lag wie ein Ziegel auf dem Eingang einer Schatzhöhle und verbarg die Wunder der Toten, und ich betrachte schweigend den lilafarbenen Stein, bis die Tür aufgeht und Dina mich mit festem Griff durch den Flur führt, den Arm um meineSchultern gelegt, mich durch eine Tür schiebt und sofort ins Wartezimmer zurückkehrt.
    Er deutet auf einen Sessel und lässt sich mir gegenüber nieder, und ich sinke überrascht in den Sessel, ein alter weiblicher Instinkt bringt mich dazu, schnell mit der Hand über meine wirren Haare zu fahren, mir den Pulli stramm zu ziehen, aber auch so wird er mich nicht erkennen, ich würde mich selbst nicht erkennen, erinnert er sich überhaupt noch an die Frau, die eines Tages in seiner schönen Wohnung stand und gierig eine rote Birne aß, die amüsiert seinen Hintern betrachtete, während er dastand und pinkelte, erinnere ich mich überhaupt noch an sie, und plötzlich kommt es mir vor, als würde mir die Erinnerung an jenen Morgen einen schwachen Funken Leben schenken, es war der letzte Morgen meiner früheren Existenz, einer freien, wagemutigen, hoffnungsvollen Existenz.
    Kennen wir uns, fragt er und betrachtet mich irritiert, genau wie damals, und wie damals antworte ich, nicht wirklich, und seine Lippen, die die Schokoladensterne zerbröselt hatten, öffnen sich und lächeln mich an, seine Hand greift beiläufig zum Reißverschluss seiner Hose, um sich zu versichern, dass er diesmal zugezogen ist, Sie sind es, er hebt vorwurfsvoll den Finger gegen mich, ich erinnere mich an Sie, Sie waren bei uns zu Hause, Sie sind Gilis Mutter, und ich lächle traurig, ich war Gilis Mutter, jetzt bin ich schon keine Mutter mehr, ich existiere nicht mehr, ein Strom kalter Tränen überflutet das Lächeln, ich wische sie mit dem Ärmel weg, ignoriere die Packung Papiertaschentücher, die zwischen uns auf dem kalten prachtvollen Glastisch liegt. Ich verstehe, sagt er sanft, Dina hat mir Ihre Situation beschrieben, ich rate natürlich zu einer Psychotherapie, aber es wäre gut, erst mal eine medikamentöse Behandlung zu versuchen, ich fürchte, dass ich Sie nicht selbst behandelnkann, aber einstweilen werde ich Ihnen als Erste-Hilfe-Maßnahme ein Rezept geben, ich werde Sie an jemand anderen überweisen, er schaut mich mitleidig und zögernd an, als betrachte er eine sterbende Katze am Straßenrand.
    Weinen Sie viel, fragt er, seine schwarzen, tief liegenden Augen wandern über mein Gesicht, als suchten sie nach Blutspuren, fühlen Sie sich nach dem Weinen erleichtert, oder ist es ein Weinen, das keinen Trost bietet, machen Ihnen die gleichen Dinge Spaß wie früher, gibt es überhaupt etwas, was Ihnen Spaß macht, können Sie sich konzentrieren, denken Sie an Selbstmord, haben Sie Schuldgefühle, haben Sie Gewicht verloren, leiden Sie unter Schlafmangel, sind Sie allergisch gegen Medikamente, wann haben Sie sich zum letzten Mal wohl gefühlt? Ich antworte mit schwacher Stimme, durch die Vorhänge aus violettem Chiffon dringt ein weiches Dämmerlicht ins Zimmer, langsam fallen meine Augen zu, ich habe das Gefühl, dass ich ausgerechnet hier endlich einschlafen könnte, hier, in dem bequemen Ledersessel, und nur bei der letzten Frage halte ich kurz inne, als mir die Antwort klar wird, damals, bei ihm zu Hause, an jenem Schabbatmorgen im Frühherbst, da habe ich mich zum letzten Mal wohl gefühlt.
    Es wird nicht sofort besser werden, sagt er, während er schnell den Namen des Medikaments auf ein Rezept schreibt, und vielleicht kommt es in den ersten Tagen auch zu Nebenwirkungen, aber innerhalb von drei Wochen wird sich Ihr Zustand bessern, dieses Medikament kappt die Spitzen des Gefühls, ich nehme an, dass es Ihnen hilft, er hält mir das Rezept hin, fangen Sie schon heute damit an, rät er, quälen Sie sich nicht umsonst, und wenn es ein Problem gibt, rufen Sie mich an, Sie haben ja meine Privatnummer, und schnell schreibt er noch die Nummer der Praxis dazu, zur Fortsetzung der Behandlung überweise ich Sie an jemandanderen, aber lassen Sie uns erst die Chemie ausprobieren, manchmal hat man keine andere Wahl. Wir müssen es versuchen, sagt er im Plural, als handle es sich um

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