Späte Heimkehr
Falls sie doch einmal eine Bemerkung machte über die Landschaft oder über etwas, das ihr ins Auge fiel, waren sie schon vorbei, bevor er ihr antwortete. Außerdem fürchtete sie, ihm lästig zu fallen oder ihn beim Fahren zu stören.
Enid sah ihrem Besuch beim Kardiologen mit einem flauen Gefühl im Magen entgegen. Die Untersuchungen machten ihr Angst, und vor lauter Aufregung schien ihr Herz noch unsteter zu klopfen als sonst. Sie fand es unangenehm, dass solch ein Wirbel um sie veranstaltet wurde. Das gab ihr das Gefühl, allen – und ganz besonders Phillip – zur Last zu fallen. Sie hätte es vorgezogen, wenn niemand von ihrem Herzproblem gewusst hätte. Große Schmerzen hatte sie nicht. Ihre Kurzatmigkeit und die Herzrhythmusstörungen waren unangenehm, aber das machte sie noch nicht zum Pflegefall. Trotzdem fühlte sie sich alt. Wo war ihr Leben geblieben? Sie war einmal eine junge Frau gewesen, verliebt und voller Träume, die sich nie erfüllt hatten. Wenn sie daran dachte, spürte sie wieder den Schmerz, den sie an jenem Tag empfunden hatte, an dem sie vom Tod ihres Verlobten erfahren hatte. Falls Ray am Leben geblieben wäre, hätte sie dann ein besseres, glücklicheres Leben geführt? Oder war das wirklich alles: ein Kind, ein schönes Haus und ein Leben im Schatten eines erfolgreichen Ehemanns? Barney brauchte sie jetzt nicht mehr, und was ihr im Leben am meisten Freude bereitete, waren die Hunde und der Garten.
Das Leben an Phillips Seite verlief geruhsam. Sexuelle Ansprüche stellte er an sie schon lange nicht mehr, mittlerweile schliefen sie in getrennten Betten. Sie hatte den ehelichen Sex als Pflichtübung betrachtet und nie begriffen, weshalb er im Leben anderer Menschen eine so leidenschaftliche Rolle spielte. Phillip war der Einzige, mit dem sie geschlafen hatte, aber sie konnte sich an die feurigen Küsse ihrer Jugend erinnern und bedauerte es, zugelassen zu haben, dass ihr Liebster in den Krieg zog, ohne dass sie wirklich zusammengekommen waren. »Warte, bis ich heimkehre. Wir haben noch unser ganzes Leben vor uns.« Aber es war anders gekommen, und sie fühlte sich betrogen. Ray lebte in ihrer Erinnerung als starker junger Mann fort, während sie immer älter wurde und sich schon lange nicht mehr hübsch oder begehrenswert fühlte.
Enid wusste, dass Phillip sich als Verlierer in einem Wettkampf betrachtete, der entschieden worden war, ohne dass er überhaupt Gelegenheit gehabt hätte, sich zu beweisen. Er hatte ihr Sicherheit geboten, einen schützenden Hafen, und den brauchte sie. Sie hatten einen Pakt geschlossen, zu dem sie ihren Beitrag leistete, aus Loyalität und – wie sie jetzt begriff – aus Dankbarkeit. Doch angesichts der noch vor ihr liegenden Jahre, in denen sich wohl nichts Neues mehr ereignen würde, wurde ihr schwer ums Herz. Sie würde keine abenteuerlichen Fahrten auf dem Amazonas unternehmen, keine glühenden Liebesaffären haben, keine lärmende Großfamilie, die sie auf Trab hielt, und wenn dieses Leben dann an sein Ende käme, würde sie in der Welt, aus der sie sich verabschiedete, keine Spuren hinterlassen.
Hatte es in ihrem Leben einen Zeitpunkt gegeben, an dem es möglich gewesen wäre, den Lauf der Ereignisse zu ändern? War da ein Wegweiser, den sie übersehen, eine winzige Geste oder Andeutung von Phillip, der sie keine Beachtung geschenkt hatte? Enid schloss die Augen, um die unerfreulichen Gedanken zu verscheuchen, und versuchte, ihren Kopf ganz leer zu machen. Darin hatte sie mittlerweile Übung.
Phillip entging nicht, dass sie wie so häufig in anderen Sphären schwebte. Ihre »Verfassung«, wie er es nannte, bereitete ihm größere Sorgen, als er sich anmerken ließ. Die Vorstellung, sie könne bettlägerig werden oder ihn unversehens allein lassen, machte ihm Angst. Enid war ein unerschütterlicher, weicher Puffer zwischen ihm und seinem Sohn und dem Rest der Welt. Solange er sich auf die angegriffene Gesundheit seiner zurückgezogen lebenden Gattin berufen konnte, hatte er eine Möglichkeit, sich dem gesellschaftlichen Leben zu entziehen. Alle, die ihn kannten, wären wohl aus allen Wolken gefallen, hätten sie geahnt, dass es dem Furcht einflößenden und oft so herrisch auftretenden Phillip Holten in Wirklichkeit vor ganz normalen zwischenmenschlichen Beziehungen graute und dass er Angst davor hatte, dass Fremde ihm zu nahe treten könnten. Phillip hatte seine spätere Frau durch gemeinsame Freunde kennen gelernt, als er auf der
Royal Easter
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