Späte Schuld
Gesichtsausdruck.
»Hallo, Sohn«, sagte sie und schloss die Tür hinter sich.
»Hallo, Mom«, erwiderte er.
Mittwoch, 2. September 2009 – 19.15 Uhr
Andi war kurz vor der Golden Gate Bridge von der Straße abgebogen und fuhr nun auf einen Parkplatz. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wie sie hierhergekommen war. Nachdem sie angehalten hatte, klappte sie die Sonnenblende herunter und begann, im Frisierspiegel ihr Make-up aufzufrischen. Sie hatte keine Ahnung, was sie hier machte oder warum sie beschlossen hatte hierherzufahren. Ihre Umgebung nahm sie lediglich schemenhaft wahr. Vielleicht war sie ja nur eine Marionette, deren Fäden jemand ganz anders in der Hand hatte.
Dann fiel ihr alles wieder ein.
Sie stieg aus dem Auto und strich mit ein paar schnellen Handbewegungen ihr zerknittertes Kleid glatt.
»Ich werde ihm nie wieder ins Gesicht sehen müssen.«
Natürlich nicht. Der Prozess war vorbei. Sie begann, auf die Brücke zuzugehen. Auf dieser Seite der Straße gab es einen Fußgängerzugang.
Sie hielt sich auf dem Fußweg, der an der Mautstation vorbei zur Brücke führte. Ein gemütlicher Spaziergang, sie hatte keinen Grund zur Eile. Während sie die Aussicht und die Atmosphäre genoss, dachte sie wieder an die letzten Worte, die sie auf dem Gerichtsparkplatz zu Claymore gesagt hatte.
»Man muss nur den entscheidenden Sprung wagen und alles hinter sich lassen.«
Mittwoch, 2. September 2009 – 19.20 Uhr
»Ich habe eine Mitarbeiterin des Archivs geschmiert, damit sie mir meine Adoptionsakte zeigt«, erklärte Louis Manning.
Er sprach mit Gene Vance, als wäre sie eine alte Freundin, aber sie spürte, dass er sie nur verhöhnte. Es gelang ihr nicht, die hilflose Martine Yin auszublenden, die schwer atmend und mit schreckgeweiteten Augen auf dem Bett lag.
»Und das geht so einfach?«, fragte sie. »Ich dachte, das ist nur in Seifenopfern und Polizeisendungen so, dass alle Beamten korrupt sind.«
»Oh, ich habe sie nicht mit Geld geschmiert.«
»Mit was dann?«
»Ich habe ihr Crystal Meth gegeben, bis sie süchtig war. So war es viel einfacher, sie zu kontrollieren.«
Er schien Spaß daran zu haben, ihr sein Vorgehen zu beschreiben.
»Und was hast du herausgefunden?«
»Die Namen beider Elternteile. Von dir hatte ich noch nie gehört, aber ich wusste, wer er war. Es stand ja dort, schwarz auf weiß: Mein Vater war ein verurteilter Vergewaltiger und politischer Aktivist. Also habe ich angefangen, mich über ihn zu informieren, darüber, wer er früher war und für was er stand. Natürlich habe ich auch erfahren, dass er seiner Vergangenheit inzwischen den Rücken gekehrt hat und Teil des Establishments geworden ist. Dann habe ich Nachforschungen über dich angestellt und herausgefunden, dass du in einem Krisenzentrum für Vergewaltigungsopfer arbeitest. Und da ist mir klar geworden, was damals passiert sein musste.«
»Und wann hast du das alles herausgefunden?«
»Schon vor einer Weile.«
»Du wusstest es also schon, als …«
»Ja, aber ich habe sie nicht deswegen vergewaltigt. Als du dann mit dem Fall beauftragt wurdest – und Andi auch –, war das … sozusagen das Sahnehäubchen. Wie hast du herausgefunden, dass ich sie vergewaltigt habe?«
»Elias Claymore hat mir erzählt …«
»Woher will der denn das wissen?«
»Er hat ja nicht gesagt, dass du es warst. Ich meine, nicht direkt. Er hat mir nur erzählt, dass die DNA des Y-Chromosoms zu euch beiden gepasst hat, was allerdings nicht viel bedeutet, weil das auch auf Tausende andere zutrifft. Aber dann wurde mit der verbliebenen Fingernagelprobe ein weiterer Test durchgeführt, ein mitochondrischer DNA-Test …«
»Was soll das sein?«
»Ein Test, bei dem die DNA der Mutter berücksichtigt wird. Damit kann man keine Einzelperson identifizieren, aber Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Geschwistern und anderen Personen der mütterlichen Linie bestimmen. Und diese DNA hat auf dich gepasst.«
Manning wirkte verdutzt. »Aber wenn diese Art von DNA von Generation zu Generation weitergegeben wird, gibt es doch sicher noch jede Menge andere Leute, auf die sie passt.«
»Ja, aber bei wie vielen davon stimmt die väterliche DNA mit Elias Claymore überein?«
»Also war es die Kombination dieser beiden Faktoren, die dir verraten hat, dass ich dein Sohn bin?«
»Eigentlich nicht. Aber ich weiß etwas, was sonst keiner weiß: Die DNA der dritten Fingernagelprobe stammt gar nicht vom Vergewaltiger, sondern von mir. Ich wurde mit Bethel
Weitere Kostenlose Bücher