Späte Sühne - Island-Krimi
ich kenne alle, die Lust haben, mit mir zu trinken«, sagte Jón. »Wie heißt du?«, fragte er dann. Anscheinend hatte er wieder vergessen, dass Birkir Gunnar vorgestellt hatte. Gunnar sagte ihm seinen Namen und fragte: »Handelte es sich um Bekannte von dir aus Reykjavík?«
»Bekannte! Konráð und ich haben oft einen zusammen getrunken, sowohl daheim als auch im Ausland. Er hat keinen Sinn für Lyrik, aber er mag Stegreifgedichte, vor allem obszöne. Da kenne ich einige gute. Kostprobe gefällig?«
»Später. Woher kennst du Fabían?«
»Fabían ist mein Pflegesohn.«
»Dein Pflegesohn?«
»Ja, oder Pflegebruder oder Pflegevater. Ich habe ihn schon in jungen Jahren zu mir genommen, und er wohnt bei mir, wenn er nicht gerade im Krankenhaus ist. Wahrscheinlich ist er im Laufe der Zeit vernünftiger geworden als ich, er gibt mir manchmal gute Ratschläge. Das ist auch nötig.«
»Wieso im Krankenhaus?«
»In der Klapsmühle. Früher litt er unter außerordentlich merkwürdigen Depressionen, irgendeine Art geistiger Taubheit, hat der Seelenklempner gesagt. Er war auf irgendeinem Mond, und hat sich total vernachlässigt, ihm musste sogar das Essen eingetrichtert und der Hintern abgeputzt werden. Er war komplett hilflos. Das hat sich mit der Zeit wieder gegeben, er landete wieder auf der Erde und hat seine Sinne so ziemlich wieder beisammen. Dann bekam er aber Krebs und kämpft jetzt schon seit vielen Jahren gegen diese verfluchte Krankheit.«
Jón hob die leere Bierflasche, und Gunnar holte die nächste aus dem Kühlschrank, öffnete sie und reichte sie Jón.
»Hast du Anton gekannt?«
»Nur vom Hörensagen.«
»Ihr seid euch nie begegnet?«
»Nein.«
»Glaubst du, dass Fabían irgendwann allein mit diesem Anton im Büro des Botschafters war?«, fragte Gunnar.
»Du meinst, ob ich glaube, dass Fabían Anton umgebracht hat?«
»Ja, so kann man es auch ausdrücken.«
»Das glaube ich nicht. Wie wurde er ermordet?«
Gunnar ging nicht auf diese Frage ein, sondern stellte eine Gegenfrage: »Kannte Fabían diesen Anton?«
»Nein.«
»Die anderen Gäste, Helgi, Lúðvík, Unnar und Starkaður. Kanntest du die aus Reykjavík?«
»Alle kennen alle in Reykjavík.«
»Es sind also alte Bekannte von dir?«
»Das hängt davon ab, ob die Leute einen kennen wollen.«
»Glaubst du, dass einer von ihnen als Mörder von Anton in Frage kommt?«
Jón brach in lautes Gelächter aus. »Meiner Meinung nach hätte dieser Anton jeden x-Beliebigen zum Mörder machen können. Ich weiß nicht, wer der Glückliche ist, und ich bete auch nicht darum, dass man ihn findet. Was er getan hat, war schon lange überfällig.«
»Wieso?«
»Antons Business, das war nichts als Menschenhandel und Ausbeutung. Der Tod eines solchen Widerlings ist kein Verlust.«
»Woher weißt du das?«
»Gerüchte, Jungchen, Gerüchte.«
»Müssen die stimmen?«
»Nein, wahrscheinlich war der Kerl nur karitativ unter den Armen in Asien tätig. Warum zum Teufel fragst du mich danach? Es war doch nicht meine Aufgabe, dem Mann etwas nachzuweisen oder mich um ihn zu kümmern. Er geht mich einfach nichts an, weder lebend noch tot.«
Bevor Anna nach Island zurückgeflogen war, hatte sie Gunnar alles ausgehändigt, was er zum Fingerabdrucknehmen brauchte. Das holte er jetzt aus seiner Tasche und sagte: »Ich muss Fingerabdrücke von dir nehmen, damit du als Täter ausgeschlossen werden kannst.«
»Fingerabdrücke?« Jón sprang auf und drohte mit der Faust. »Kommt nicht in Frage, Jungchen. So was bekommt niemand von mir.«
»Aber es hilft uns bei der Ermittlung.«
»Mir ist es scheißegal, was euch hilft und was nicht. Ich lass euch nicht an mir herumfummeln. Meine Schuppen und mein Fingerfett sind meine Privatsache.«
»Das ist doch nicht gefährlich.«
»Für mich ist das Menschenjagd. Von mir kriegt ihr nichts.«
»Na schön. Und wo kann man dich in den nächsten Tagen erreichen?«
»In Island, verdammt noch mal. Hier habe ich nichts verloren. Niemand will mit einem reden, und außerdem hat Konráð den Empfang abgesagt, der hier stattfinden sollte. Planung geändert, sagte er. Meine Gedichte werden ihre Leser an anderem Ort und zu anderer Zeit finden. Wahrscheinlich erst, wenn ich schon tot bin. Vor einem lebenden Lyriker muss man auf der Hut sein, der könnte die Wahrheit sagen.«
Gunnar stand auf und wollte sich verabschieden.
»Leck mich am Arsch«, erklärte der Dichter und stürmte den Gang entlang.
Gunnar hörte ihn laut rufen:
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