Späte Sühne - Island-Krimi
anderes zu tun geben. Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen, hatte ihm sein Pflegevater Hinrik beigebracht, mit dem Birkir sich um die paar Schafe gekümmert hatte, die der alte Mann in einem kleinen Stall in Vatnsleysuströnd hielt.
Birkirs Wohnung befand sich in einem alten, etwas sonderbaren Haus an der Bergstaðastræti. Die Wohnung war beengt und seltsam eingeteilt, aber er hatte sich in all den Jahren, die er dort wohnte, daran gewöhnt. Er fand sie gemütlich, sie war sein Zuhause.
Zunächst machte er sich daran, seinen Koffer auszupacken. Die schmutzige Unterwäsche wanderte direkt in die Waschmaschine, die anderen Sachen in den Schrank. Das Einzige, was sich in Deutschland seinem Gepäck hinzugesellt hatte, war ein kleines Schwarz-Weiß-Foto von einer Geigerin in einem wunderschön geschnitzten Rahmen, das er am Vormittag vor dem Abflug in einem Antiquariat in Frankfurt erstanden hatte. Mit dem Bild in der Hand ging er durch seine Wohnung, um einen geeigneten Platz dafür zu finden. An sämtlichen Wänden hingen Bilder, die alle in irgendeiner Form dasselbe Motiv zeigten, Menschen oder Figuren mit Streichinstrumenten, Geigen, Bratschen, Cellos oder Kontrabässen. Fotografien, Ölgemälde, Aquarelle oder Grafiken in den unterschiedlichsten Größen. Auch die kleinen Figuren in den Regalen spielten Streichinstrumente.
Diese deutsche Fotografie schien mindestens hundert Jahre alt zu sein, der Rahmen ebenfalls. Er hatte seiner Meinung nach einen fairen Preis dafür gezahlt. Das Alter dieser Objekte spielte keine Rolle für ihn, wichtig war nur die Vielfalt der Sammlung.
Als Birkir einen guten Platz im Wohnzimmer gefunden hatte, holte er seinen Hammer und einen Stahlnagel, den er vorsichtig einschlug, und anschließend hängte er das Bild an den Nagel. Er betrachtete es eine ganze Weile und war eigentlich sehr zufrieden mit dem Ergebnis. Streichinstrumente gaben ihm wegen ihres Aussehens und ihrer Form eine Art von Sicherheitsgefühl. Eine unklare Erinnerung oder ein Bild aus der Kindheit waren der Grund dafür. Ansonsten waren seine Erinnerungen an Vietnam nur bruchstückhaft, erst seine Erlebnisse in einem Flüchtlingslager in Malaysia konnte er in einen gewissen Zusammenhang bringen. Damals war er als Waisenkind in der Obhut einer großen Familie gewesen.
Als Nächstes legte er eine CD ein, und die Unvollendete von Schubert, Andante con moto, erklang, während er durch seine Wohnung ging und siebenundzwanzig Topfblumen goss.
Freitag, 16. Oktober
09:30
Verschnupft und steif erschien Gunnar zur Arbeit. Er stützte sich auf zwei Krücken, die er seit einem Unfall besaß, als er sich bei Glatteis das Bein gebrochen hatte. Seine Mutter hatte sie in der Abstellkammer unter Tüten mit leeren Bierdosen wiedergefunden. An den Krücken konnte er sich zwar fortbewegen, aber nur sehr langsam.
»Ich kann nicht gerade gehen«, sagte Gunnar zu Birkir. »Ich muss mich auf etwas stützen, sonst kippe ich vornüber.«
Er klopfte mit einer Krücke auf den Boden, um seine Worte zu unterstreichen.
»Logisch«, entgegnete Birkir. »Dein Schwerpunkt befindet sich in dieser Stellung erheblich weiter vorn als deine Zehen.«
»Hol mir eine große Tasse Tee mit Zucker und Milch«, sagte Gunnar.
»Sonst noch etwas?«
»Du kannst auch eine Küchenrolle mitbringen, meine Nase trieft.«
»Bist du dir ganz sicher, dass du nicht besser im Bett aufgehoben wärst?«, fragte Birkir.
»Wir müssen einen Mordfall lösen«, erklärte Gunnar. »Ohne meine Hilfe schaffst du das nicht. Und jetzt geh und tu, was ich dir gesagt habe.«
Gunnar setzte sich und fuhr seinen Computer hoch, während er darauf wartete, dass Birkir den Auftrag ausführte. Er hatte kurz in die isländischen und deutschen Nachrichten hineingeschaut, als Birkir eine dampfende Tasse und eine Küchenrolle vor ihn hinstellte.
Gunnar riss zwei Blätter von der Rolle ab und putzte sich vorsichtig die Nase. Der Rücken vertrug keine Belastung.
»Gibt’s was Neues?«, fragte er.
»Doch, ja«, antwortete Birkir. »Einen der Gäste in der Botschaft haben wir wegen früherer Vergehen im Strafregister gefunden, Körperverletzung.«
»Wer ist das?«
»Lúðvík Bjarnason.«
»Der Ausstellungsleiter?«
»Ja. In jüngeren Jahren war er wohl als Geldeintreiber aktiv.«
»War er Geldeintreiber?«
»Ja, etwas in der Art.«
»Wie lange liegt das zurück?«
»Der letzte Fall war vor zwanzig Jahren. Danach scheint er sich erbaulicheren Tätigkeiten
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