Später Frost: Der erste Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
Sie dachte sofort an Melin Dohuk. Verwundert bremste sie und brachte ihr Auto zum Stehen. Sie stieg aus, zog ihren Mantel über und trat auf das Taxi zu. Doch in dem Auto saß nicht Melin Dohuk, sondern eine rauchende Frau mittleren Alters, die eine Daunenweste trug. Sie ließ die Scheibe herab und sah Nyström fragend an. Das Autoradio spielte The Final Countdown . Nyström zeigte ihre Polizeimarke.
»Was machst du denn mit dem Taxi um die Uhrzeit hier draußen, um Gottes willen?«
Die Frau verdrehte die Augen. »Anscheinend weiß bei euch die rechte Hand nicht, was die linke gerade tut.«
13
Stina Forss schlenderte durch die menschenleere Fußgängerzone. Sie war hungrig und bereute es, dass sie Majs Einladung zum Abendessen ausgeschlagen hatte, aber die Fahrt hinaus nach Moheda und dann wieder zurück war ihr zu umständlich erschienen, schließlich hatten Maj und Mathias sicherlich Besseres zu tun, als für sie den Shuttleservice zu spielen. Es wurde Zeit, sich um ein eigenes Auto zu kümmern. Und wenn sie ehrlich war, musste sie sich eingestehen, dass sie sich davor fürchtete, dass Maj nach ihrem Vater fragen würde. Jetzt war sie seit über einer Woche hier und hatte ihn noch immer nicht besucht. Eine Woche, in der der Tumor ein Stück gewachsen war. Er verändert sich, hatte Maj gesagt. Machte ihn die Krankheit auch zu einem besseren Menschen?
Eine Windböe fegte ihr Schnee ins Gesicht. Forss sah auf. Am Ende der Einkaufsstraße ragte die von Scheinwerfern angeleuchtete Doppelspitze des Doms wie eine Fleischgabel in den wolkenlosen Nachthimmel. Es schneite nicht, der Wind musste den Schnee auf einem Dachfirst gefunden haben. Sie stand jetzt vor dem Pub, in dem sie schon einmal gewesen war. Dann also noch mal Sunday, Bloody Sunday . Wenigstens gab es hier etwas zu essen und alkoholische Getränke.
Sie bestellte sich ein Hacksteak und dazu ein Bier und einen Jägermeister. Es war deutlich weniger los als am vergangenen Samstagabend. Am Tresen waren drei Barhocker besetzt, und an einem Tisch in der Ecke saß ein Paar in Trekkingkleidung, deutsche Touristen, sie witterte es quer durch den Raum. Der Schnaps entspannte sie. Sie lehnte sich zurück und ließ ihren Blick über die viktorianische Gemütlichkeit gleiten. Sie zählte die Kupferkannen, die an den Dachbalken glänzten. Die Streifen auf der Textiltapete. Die gerahmten Fotos und Postkarten aus vergangenen Zeiten, die wahrscheinlich irgendjemand einmal auf einem Flohmarkt in Bristol, Brighton oder Birmingham gekauft hatte. Sie nippte an ihrem Bier. Dann blieb ihr Blick auf einem der alten Fotos hängen. Die bräunliche Fotografie mit dem Wellenschnitt zeigte ein Soldatenkorps der britischen Armee. Ernst und streng sahen die salutierenden Männer in die Kamera, als ob sie ahnten, was an Leid und Entbehrungen im Zweiten Weltkrieg auf sie zukommen würde. Sie musste an Balthasar Frost denken. Auch der alte Mann hatte einmal so oder so ähnlich mit seinen Kameraden posiert, bis ihn das Schicksal nach Schweden geführt hatte. Sie nahm einen weiteren Schluck von dem Bier, schloss die Augen und massierte ihre Nasenwurzel. Ein zarter Duft stieg ihr in die Nase, ein letzter Rest von dem Parfüm, das sie sich gestern in Frosts Schlafzimmer auf ihr Handgelenk gesprüht hatte. Und dann bekam sie eine Gänsehaut.
Chanel.
Die Frau, die sie nicht finden konnten.
Plötzlich wusste sie, wo sie die Poster in Frederik Axelssons Hobbyzimmer schon einmal gesehen hatte.
Im Taxi hinaus zu Frosts Anwesen musste sie an einen Spruch ihres ehemaligen Ausbilders Lehmann denken:
Menschen sind berechenbarer als das kleine Einmaleins. Jeder Zweite hat seine Geheimnisse im Schreibtisch versteckt.
Sie war sich allerdings nicht sicher, ob diese Statistik noch stimmte. Ihrer Erfahrung nach waren die Menschen gerade dabei, ihr Innerstes ins Internet zu verlagern. Für die Eingangstür brauchte sie keine Minute. Zufrieden nahm sie zur Kenntnis, dass ihre Dietriche auch an schwedischen Schlössern ihren Dienst taten. Oder kamen Schlösser heutzutage sowieso alle aus China?
Sie ging direkt in das Arbeitszimmer. Der Trick mit der zweigeteilten Schublade war banal, man musste sie einfach weit genug herausziehen. Die Regel ihres alten Ausbilders hatte sich bestätigt, es war ihr peinlich, dass sie nicht gleich darauf gekommen war. Sie fand das Fotoalbum in der zweiten Schublade von oben. Nachdem sie wenige Seiten geblättert hatte, wusste sie, dass sie recht gehabt hatte.
Es war im
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