Später Frost: Der erste Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
durch die Jahrhunderte hindurch eine intakte Kirchengemeinde bewahrt, auch wenn sie vor einigen Jahren mit der Nachbargemeinde Ormesberga zusammengelegt worden war und Anders abwechselnd jedes zweite Wochenende den Gottesdienst im Nachbarort abhielt. Als Kriminalbeamtin und als Ehefrau eines Landpfarrers war sie es natürlich gewöhnt, in einem anderen Wochenrhythmus als die typische Familie Svensson zu leben, aber dennoch bemerkte sie am späten Montagabend, dass ihr die Ruhe und Kraft fehlten, die sie normalerweise aus dem Wochenende mitnahm. Deshalb schob sie es auf ihre Müdigkeit, dass sie später nicht mehr genau den Moment bestimmen konnte, in dem sich der Gedanke endgültig festgesetzt hatte. War es während des Gesprächs mit Anders gewesen, der ihr vom Anruf ihrer Tochter Anna und den Ergebnissen der letzten Kirchenratssitzung erzählt hatte, oder als sie den Gefrierbeutel mit dem Gemüseeintopf von letzter Woche aus der Eistruhe im Keller genommen hatte? Sie spürte, dass sich die Entspannung, die sie sonst nach Feierabend empfand, nicht einstellte. Sie erkannte dieses Gefühl wieder, sie hatte es schon häufiger erlebt, wenn sie am Anfang eines anstrengenden Falls stand, deshalb wusste sie auch, dass es wenig Sinn ergeben würde, sich neben ihren Mann ins Bett zu legen und auf Schlaf zu warten, der nicht kommen würde.
Warum war die obere Etage in Frosts Haus tabu, warum wollte der alte Mann die Frau in seinem Leben verstecken?
Nyström seufzte. Ein Seufzen, das sowohl das knackende Kaminfeuer im Wohnzimmer als auch die neue Surround-Anlage des Fernsehers übertönte, die sich Anders zu seinem sechzigsten Geburtstag im Januar gegönnt hatte und die gerade eine der unzähligen neuen Mankell-Verfilmungen in Kinolautstärke herauspolterte. Wenn überhaupt, dann mochte Nyström die alten Filme, in denen Rolf Lassgård mitspielte. In ihrer Vorstellung war die Figur des Kurt Wallander ein schwerer, müder Schone und kein gut aussehender Brite. Ihr Mann liebte Krimis, aber er kannte seine Frau gut genug, um dieses Seufzen zu deuten. Er nahm eine der vier Fernbedienungen, die sich auf der breiten Armlehne seines Sessels angesammelt hatten, und stellte den Ton ab. Ihr war es ein Rätsel, woher er wusste, welche Fernbedienung zu welchem der vielen Geräte gehörte, die sich mittlerweile in der Anrichte unter dem Fernseher befanden. Von allen Pfarrern Schwedens habe ich den wahrscheinlich einzigen abbekommen, der sich für Unterhaltungselektronik begeistert, dachte sie manchmal.
»Nun fahr schon. Du hast sonst doch keine Ruhe«, sagte Anders und sah zu ihr hinüber. »Aber nimm den Deutschen, es soll glatt werden heute Nacht.«
Sie verstand nicht.
»Was meinst du?«
»Ich meine, nimm den Audi. Und apropos, wie ist sie denn, deine deutsche Kommissarin?«
»Sie ist keine Deutsche, sie ist Schwedin. Eigentlich.«
»Meine ich ja.«
Ingrid Nyström überlegte einen Moment.
»Schlau ist sie«, sagte sie dann, »und eigenartig. Ich weiß nicht, wie ich es sonst beschreiben soll. Sie ist ein bisschen eigenartig. Das Erste, wonach sie mich gefragt hat, war eine Schusswaffe. Apropos ...«
Sie stemmte ihren langen Körper aus der Wärme des Sofas und gab ihrem Mann einen Kuss auf den Kopf. Dann tauschte sie ihren Bademantel gegen Jeans und Pullover und einen Daunenmantel, nahm wie immer, wenn sie im Dienst war, ihre Waffe aus dem verschließbaren Metallschrank und steckte sie in ihr Schulterholster.
Der Niederschlag war im Laufe des Abends in Schneeregen übergegangen. Sie fuhr zügig und war froh, statt ihres Toyotas Anders’ mit neuester Technik ausgestattetes Fahrzeug genommen zu haben. Im Radio liefen Schlager. Sie mochte das, obwohl sie selbst meistens geistliche Musik machte. Und sie fuhr gerne nachts Auto, auch bei diesem Wetter. Sie summte die eingängigen Lieder mit und merkte, dass sie Lust bekam, mal wieder tanzen zu gehen. Einen ganzen Abend Bug tanzen, sobald diese Ermittlung ihr Zeit ließ.
Warum wollte der Mann diese Frau verstecken?
Sie musste auf diese Frage eine Antwort finden, noch in dieser Nacht. Die Zufahrtsstraße lag in der Dunkelheit. Auch in den Wohnhäusern der Bauernhöfe, die sie passierte, schien niemand mehr wach zu sein, die Einsamkeit auf dem kurvigen Schotterweg durch den Wald kam ihr absolut vor. Sie nahm die letzte Kehre zu dem Haus. Dann sah sie, dass sie sich geirrt hatte. Hier herrschte keine Einsamkeit, indem Haus brannte Licht. Davor stand ein Taxi mit laufendem Motor.
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