Später Frost: Der erste Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
im Wald gefunden habt. Ein Parkschein aus dem Automaten am Bahnhof. Vorgestern gelöst, also am Tag der Tat. 15 Kronen für 45 Minuten. Verwertbare Fingerabdrücke sind keine darauf, im ganzen Traktor nicht. Im Garten haben wir Fußabdrücke gefunden, die sind nach dem vielen Regen aber nicht sehr aussagekräftig.«
Örkenrud drückte seinen Teleskop-Zeigestock auf Bleistiftlänge zusammen und ging zu seinem Platz zurück. Dort nahm er seine Lederjacke von der Stuhllehne und warf sie sich über die Schulter. Dann sah er noch einmal in die Runde.
»Bevor ich meinen Schlaf nachhole: Ingrid hat von einer Frau gesprochen, die ebenfalls in dem Haus gelebt haben soll. Also, wir haben in der gesamten oberen Etage nur eine Sorte Fingerabdrücke gefunden. Und die stammen von Frost selbst.«
Er nickte der Runde zu und verließ den Raum.
»Mir will sie nicht aus dem Kopf«, nahm Nyström den Faden auf. »Warum weiß niemand, wer das ist?«
»Ich weiß nicht«, sagte Hultin. »Meinst du nicht, dass wir uns erst einmal auf das konzentrieren sollten, was da ist, anstatt auf etwas zu achten, was nicht da ist? Die Techniker haben doch einen ganzen Haufen Spuren gefunden. Das sind konkrete Anhaltspunkte. Außerdem scheint Frost jemand gewesen zu sein, der mitunter angeeckt ist. Auch wenn ihn jetzt schon mehrere Menschen, die ihn kannten, als nett und großherzig beschrieben haben. Vielleicht lohnt es sich zu untersuchen, ob er häufiger bei öffentlichen Veranstaltungen Leute gegen sich aufgebracht hat.«
»Bis jetzt wissen wir nur von diesem Joachim Haber«, wandte Delgado ein. »Und der hat gar kein Auto, das er am Bahnhof hätte parken können.«
»Trotzdem macht mir der Fall Angst, Hugo. Die Art und Weise, wie Frost gestorben ist. Wer macht so etwas Grausames? Ich verstehe das nicht.« Hultin rutschte tiefer in ihren Rollkragenpullover.
»Ich glaube, ich weiß, was du meinst.« Knutssons Stimme war wie immer ein Brummen. »Der Fall hat etwas Merkwürdiges. Allein, wie die Nachbarn über ihn gesprochen haben, irgendwie seltsam, so als würden sie ihn gar nicht kennen. Oder kennen wollen.«
Der massige Mann hatte die Arme vor der Brust verschränkt und wippte in seinem Stuhl.
»Die Frage, die sich mir aufdrängt, ist die nach dem Motiv«, sagte Delgado. »Warum wird ein alter Mann in Småland zu Tode gefoltert? Warum verätzt man ihm die Augen, schneidet ihm den Finger ab? Ich finde, das hat eine Symbolik, die wir nicht ignorieren können. Jemand will Frost für etwas bestrafen. Hat er etwas gesehen, was er nicht hätte sehen dürfen? Hat er etwas berührt, was er nicht hätte berühren dürfen? Ich finde, die Tat zeugt von Rache, von Strafe.«
Göran Lindholm klang aufgekratzt: »Vielleicht ist der abgeschnittene Finger eine Warnung an jemand anderen. Vielleicht teilt er mit jemandem eine gemeinsame Vergangenheit. Ich meine, wir wissen eigentlich kaum etwas über sein Leben. Achtzig Jahre sind eine lange Zeit. Diese verschwundene Frau, seine Zeit in England, die Jahre in der Armee. Seine Zeit als Wertpapierhändler.«
Nyström sah hinüber zu Forss. Sie sah konzentriert aus, als sie sprach.
»Hugo hat von Rache und Strafe gesprochen, das finde ich nachvollziehbar. Aber es gibt da noch dieses Element der Kontrolle. Nur so kann die starke Symbolik entstehen. Es wirkt auf mich sehr inszeniert, komponiert. Mich hat der Leichnam am Tatort an eine antike Statue erinnert. Oder an ein Renaissancegemälde. Bei aller Grausamkeit hatte das Szenario fast eine ästhetische Qualität. Auch wenn sich das abartig anhört. Seht euch mal Bilder von Caravaggio an.«
»Wer ist Caravaggio?«, fragte Hultin.
»Ein Renaissancemaler«, sagte Lindholm.
»Da gibt es einen Zusammenhang. Er ist für mich nur noch nicht greifbar.«
Nyström musste an Ann-Vivika Kimsels Worte denken. Dass die Position des Leichnams arrangiert aussah. Angerichtet wie ein Blumenstrauß, hatte sie gesagt.
Für einen Moment war es still im Raum, lediglich das Prasseln des Regens gegen die dunkle Panoramascheibe war zu hören. Dann ergriff Knutsson das Wort.
»Vielleicht hat Stina recht und der Mörder ist ein Maler. Van Gogh zum Beispiel hat sich schließlich auch den Finger abgeschnitten.«
Delgado stöhnte auf.
Hultin kicherte.
»Das Ohr, Lasse«, sagte Nyström, »bei van Gogh war es das Ohr.«
12
Ingrid Nyström wohnte in Ör, einem Dorf, das knapp zwanzig Kilometer außerhalb der Stadt lag. Die Ortschaft hatte sich trotz Stadtflucht und Landreformen
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