Später Frost: Der erste Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
Position. Besser noch eine Haltung. Besondersals Deutsche. Sie fand das schwer, auch als Halbdeutsche. Wie sollte man eine Haltung haben zu einem ganzen Land? Zu all den Menschen, die dort lebten, zu all den Dingen, die dort gleichzeitig passierten, zu fünftausend Jahren Geschichte? Sie hatte sich in Stockholm vor dem Flug einen Reiseführer gekauft. Nachdem sie auf den ersten Seiten zum dritten Mal Land der Widersprüche gelesen hatte, hatte sie das Buch wieder zugeklappt und in das Netz vor ihrem Sitz zu der Mappe mit den Instruktionen zur Flugsicherheit und den Werbeheften gelegt. Dort lag es noch immer, nur den Stadtplan von Jerusalem hatte sie herausgenommen. Was war also eine Haltung? Und wer hatte eine Haltung zu Belgien oder den Niederlanden? Oder zu Schweden?
Sie sah weiter aus dem Autofenster in die Mondlandschaft. Die Straße Richtung Jerusalem stieg ständig an, die Luft, die durch das offene Fenster hereinströmte, war jetzt kälter als vorhin.
»Fahren wir gerade durch Israel oder durch palästinensisches Gebiet?«, wandte sie sich von der Rückbank aus an den Fahrer. Das dunkle Augenpaar im Rückspiegel sah sie lange an.
»Weder noch«, antwortete der Fahrer schließlich. »Hier ist nur totes Land.«
Ihr Hotel war ein moderner zehnstöckiger Komplex im Stadtzentrum. Forss warf ihre wenigen Sachen auf das Bett und stieg unter die Dusche. Das Wasser roch stark nach Chlor und trocknete ihre Haut aus. Nachdem sie sich abgetrocknet hatte, fühlte sich ihr Körper wund an. Sie hatte keine Feuchtigkeitslotion dabei, nur Penatencreme. Sie cremte sich damit ein, obwohl ihre Haut dadurch weiß angemalt wurde. Ich sehe aus wie eine Voodoo-Priesterin vor einem Voodoo-Ritual, dachte sie. Sie setzte sich auf die Bettkante und massierte die Creme ein, so gut es ging. Bald würde sie mit ihrer Chefin telefonieren müssen, aber nicht jetzt. Später. Sie dachte an das, was Bingström Ingrid Nyström angetan hatte. Männer, die Frauen schlugen.
Bingström, das Schwein. Und Vater. Dann dachte sie an Sebastian.
Sie ließ sich durch das Geflecht der Straßen in der Innenstadt treiben. Die Straßenlaternen in der Fußgängerzone Ben Jehuda waren alte Jugendstilarbeiten und erinnerten sie an die Eingänge der Pariser Metro. In einer Schaufensterauslage waren Kippot ausgestellt. Zu ihrer Verwunderung gab es die religiösen Kopfbedeckungen auch als gehäkelte Smileys, Pringles-Chips – Gesichter und Embleme diverser Fußballmannschaften, von Real Madrid bis zum FC Chelsea. In einer Nebenstraße der King George Street fand sie eine Bar, die Sandwiches servierte, außerdem liefen The Smiths. Forss blieb und aß und trank dazu zwei Flaschen Beck’s. Als die CD durchgelaufen war, ging sie aufs Klo. Die gekachelten Wände der Toilette waren mit Stickern vollgeklebt, die für Tanzveranstaltungen und Partys warben, viele waren nicht auf Hebräisch, sondern auf Englisch. Der große Renner schienen Gast-DJs aus Berlin zu sein. Offenbar gab es hier keine sonderlichen Vorbehalte gegen deutschen Kulturexport, zumindest nicht, was Bier und Technomusik an-ging.
Sie ging in eine weitere Bar. Obwohl Sonntagabend war, herrschte eine sehr ausgelassene Atmosphäre. Neben dem Tresen gab es eine Tanzfläche, auf der sich zwanzig, dreißig junge Menschen drängten. Der DJ spielte Indie-Dance-floor: Arctic Monkeys, Franz Ferdinand, The Hives. Das Publikum schien international zu sein: Israelis, Italienerinnen in Pfadfinderhemden, eine Gruppe Holländer. Neben der Wirtin war sie wahrscheinlich die Älteste in dem ganzen Laden. Sie bestellte mehr Bier. Als Art Brut lief, begann sie zu tanzen. Später stand sie verschwitzt am Tresen. Einer der Holländer sprach sie an. Er war groß, hatte eine spitze Nase und lächelte.
»Woher kommst du?«, fragte er. Er stand so nah vor ihr, dass sein Knie ihr Bein berührte.
»Aus Deutschland«, sagte sie.
»Oh«, sagte er. Dann prostete er ihr kurz mit seiner Bierflasche zu und war auf der Tanzfläche verschwunden.
Sie lief noch eine Weile durch die Stadt, bevor sie zu ihrem Hotel zurückkehrte. Sie genoss den kühlen Nachtwind auf ihren Wangen und trank ein letztes Bier, das sie mit aus der Bar genommen hatte. Irgendwann las sie das Straßenschild Hapalmach . Gleich hier, an der Ecke Ben Zion Gini Square, hatte das Terrorkommando die tödlichen Schüsse auf Wennerberg abgegeben. Weiter östlich, in Richtung der Altstadt, fand Forss den kleinen Park, in dem der Leichnam gefunden worden war, den man
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