Später Frost: Der erste Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
Die Verkäufer buhlten lautstark um die Aufmerksamkeit der Passanten. An einem T-Shirt-Stand betrachtete sie die Motive. Auf einem war ein Kampfflugzeug abgebildet, darunter der Schriftzug Don’t worry USA, Israel is behind you, auf einem anderen das Gesicht eines bärtigen Mannes und eine Maschinenpistole, darunter stand: Israel = Guns’N’Moses .
Das war etwas, was Sebastian witzig gefunden hätte. Sie ließ das T-Shirt liegen und schlenderte weiter, bevor der Verkäufer sie ansprach. Bald war sie an der Stelle, an der die Via Dolorosa von der Gasse abbog. Forss hielt sich links und ging in die unscheinbare Straße hinein. Hier war es deutlich ruhiger, der Strom der Touristen dünnte sich aus. Nach wenigen Metern stand sie vor dem Eingang des Armenischen Hospizes. Es war eine schlichte Tür unter einem Rundbogen in einer hohen Sandsteinmauer. Forss klingelte, die Tür wurde mit einem Summen geöffnet, und sie trat in einen schattigen, begrünten Innenhof, von dem lautstarken Trubel in der Gasse war hier nichts mehr zu spüren. Unter einer Balustrade aus Rund- und Spitzbögen hindurch ging sie in das Hauptgebäude. Ein freundlich blickender Mann in Sandalen empfing sie. Er sprach ein leidliches Englisch und sah bis auf die Sandalen nicht besonders mönchisch aus. Er trug Jeans und ein Nike-Sweatshirt und hatte eine Kurzhaarfrisur. Forss war angemeldet, dennoch musste sie ausführlich ihr Anliegen erklären. Sie zeigte die Papiere, die Delgado ihr mithilfe von Photoshop zusammengebastelt hatte. Angeblich kam sie als Doktorandin der Medizinhistorischen Abteilung einer Berliner Universität. Diese falschen Dokumente waren der heikle Teil ihrer Mission. Nyström wusste nichts davon, und Forss hatte Delgado versprechen müssen, dass das auch so bliebe. Der Sandalenmann schien sich jedoch wenig für ihre Legitimation zu interessieren. Er führte sie durch lange Korridore und erklärte ihr den Aufbau des Archivs. Forss musste ihre Umhängetasche an einer Garderobe abgeben, einen Notizblock und Bleistift durfte sie allerdings mit hineinnehmen. Das Archiv selbst war unspektakulär und kleiner, als sie es sich vorgestellt hatte. Es bestand aus einem fensterlosen Raum mit niedriger Decke, der eine Grundfläche von höchstens fünfundzwanzig Quadratmetern besaß. Alle vier Wände des Raums waren mit brusthohen hölzernen Karteischränken bestellt, in breiten Schubladen waren die Akten in Hängeregistern eingeordnet. In der Mitte des Raums standen ein schlichter Tisch und ein Aluminiumklappstuhl. Die Leitung des Hospizes hatte Forschern den Zugang zu Akten gewährt, die älter als fünfzig Jahre waren. Aber Forss interessierte sich sowieso nur für einen einzigen Jahrgang.
Die Akten waren nach Jahrzehnten sortiert. Die Register für die Jahre von 1940 bis 1950 nahmen zwei Schränke in Anspruch. Sie wartete, bis sich der Sandalenmann zurückgezogen hatte und sie alleine im Raum war. Ihre Augen gewöhnten sich langsam an die matte Beleuchtung der Vierzigwatt-Birne, die über dem Tisch von der Decke baumelte. Dann begann sie mit der Suche. Die Register waren alphabetisch geordnet und zum Glück auf Englisch. Forss nahm sich den Buchstaben L des Jahres 1948 vor.
LACKBAUM
LA COMBE
LANDAUER
LANGLEY
L’ARIBERE
LASSARE
LE BUSSIER
LESSING
LEVI, DAVID
LEVI, SIMON
LEVIS
LEVON
LEW
LEWIS
LISSE
LOTSCHOW
LUBINSKI
LUBITSCH
LUCHNER
LYNN
Da war kein Larsson. Wo war Larsson? Warum war Larsson nicht dabei? Sie bekam einen Schreck. Was war, wenn Larsson doch nicht hier gewesen war? Wenn er in seinem Brief die Unwahrheit geschrieben hatte? Was, wenn seine Akte im Laufe der Jahrzehnte verloren gegangen war oder wenn er sie damals mitgenommen hatte? Sie ging die Karteireiter erneut durch, vielleicht hatte sie den Namen in dem trüben Licht einfach übersehen. Nein, Larsson war definitiv nicht dabei. Vielleicht war die Akte falsch einsortiert worden? Wo sollte sie dann mit dem Suchen beginnen? Sie konnte kaum alle Register durchsehen, das wäre eine Sisyphusarbeit, die Tage in Anspruch genommen hätte. Sie fluchte laut. Verdammter Mist! Was sollte sie tun?
Aber Larsson war hier gewesen, Forss ahnte es, hier in den Mauern des Armenischen Hospizes, in denen Larsson lange Wochen gelegen hatte, hier war sein Geheimnis verborgen, und dieses Geheimnis hatte etwas mit seinem grauenvollen Tod zu tun, davon war sie überzeugt.
Die Lösung für unser Problem liegt in der Nähe.
So hatte es in dem Brief gestanden. Forss setzte sich
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