Später Frost: Der erste Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
angenommen hatte.
»Wie war es eigentlich damals, als es in Papas Bank diesen Überfall gegeben hat und er verletzt worden ist?«
»Was, Papa? Der Überfall? Die Bank? Ach ja, das.« Die alte Frau musste erst ihre Gedanken ordnen. »Ich weiß nicht, wie meinst du das?«
Nyström aß von ihrem Kuchen.
»Na ja, ist er danach ängstlicher geworden? Hat er nachts schlecht geträumt? Hat er seinen Beruf danach immer noch gemocht?«
Ihre Mutter rührte in ihrem Kaffee.
»Komisch, dass du danach fragst. Das ist Ewigkeiten her. Fünfzig Jahre? Aber ... ja, er hat sich von diesem Überfall schon einschüchtern lassen. Er war auch ein paar Tage im Krankenhaus, und die Ärzte haben damals gesagt, dass er wirklich Glück gehabt hatte mit dem Messerstich. Zehn Zentimeter weiter rechts, haben sie gesagt, und es hätte böse enden können. Das ging ihm nicht so schnell aus dem Kopf. Ein Teil seiner Unbekümmertheit ist ihm verloren gegangen, das habe ich schon gemerkt.«
»Woran?«
»Na ja, er hat insgesamt besser aufgepasst, die Haustür immer abgeschlossen, sich Sorgen gemacht, als du und Lars abends unterwegs wart. Er hat wohl seinen Glauben an das Gute im Menschen ein Stück verloren. Sagt man nicht so? Aber wieso fragst du danach?«
»Ach, nur so.«
Nyström wusste, weshalb sie ihre Mutter belogen und den Überfall verschwiegen hatte. Das würde Gullan nur unnötige Sorgen bereiten. Irgendwie hatte sie immer das Gefühl, als wäre ihre Mutter nie ganz mit ihrer Berufswahl zufrieden gewesen, als könnte sie nicht verstehen, warum ausgerechnet ihre Tochter sich mit den Kriminellen dieser Stadt herumschlagen musste.
»Solche Verbrecher sollten jedenfalls nicht ungestört das Leben anderer zerstören können.« Nyström schob ihre Kaffeetasse und ihren Kuchen zur Seite und griff nach der Einkaufstüte. Sie hatte völlig vergessen, den Käse und die Milch in den Kühlschrank einzuräumen.
4
Die Empfangshalle des Ben-Gurion-Flughafens in Tel Aviv sah so aus, wie sich Stina Forss als Kind den Tempel des Königs Salomon vorgestellt hatte: hohe Säulen, weißer Marmor, goldenes Dekor, metergroße Brunnen. Und so geschäftig wie in einem biblischen Tempel ging es auch in der von Kunstlicht durchfluteten Halle zu. Touristen mit bonbonfarbenen Rollkoffern, Backpacker, Geschäftsleute, Soldaten, jüdisch-orthodoxe Großfamilien, arabische Familienclans wirbelten in einem bunten Treiben durcheinander. Sie hörte Sprachfetzen in Englisch, Russisch, Hebräisch, Deutsch. In der Luft hing ein leichter Geruch von Zuckerwatte, und unter der hohen Decke klebten Dutzende silbrig glänzender Heliumballons; Forss konnte Herzen erkennen und Pferdchen und einen erschlaffenden Spiderman. Jetzt bin ich also im Heiligen Land, dachte sie. Es hat hier einen Hauch von Kirmes, nur dass die Fahrgeschäfte fehlen.
»Jüdisch?«, hatte der Beamte am Einreiseschalter gefragt.
»Nein, Touristin«, hatte sie geantwortet.
Was für eine blöde Antwort, dachte sie später.
Als sie durch die gläsernen Schiebetüren ins Freie trat, blies ihr warmer Wind ins Gesicht. Es war acht Uhr am Abend und bereits dunkel. Über ihr standen Sterne und ein heller Dreiviertelmond am wolkenlosen Himmel. Sie schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch. Früher hätte sie in so einem Augenblick eine Zigarette geraucht, aber das tat sie jetzt nicht mehr.
Das Nikotin, auf das Forss vor dem Flughafen verzichtet hatte, wurde ihr im Taxi zugeführt; der Fahrer raste über die Autobahn und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Forss verlor sich in dem Geruch des schwarzen, starken Tabaks wie in einer Erinnerung. Sie sah aus dem Fenster in die frühe Nacht, im Mondschein konnte sie rechts und links der Fahrbahn baumlose, kahle Hügel ausmachen. Irgendwo glaubte sie kurz ein Schaf oder eine Ziege oder ein anderes Tier auf der Kuppe eines Hügels zu sehen, sicher war sie sich allerdings nicht. Aus dem Autoradio schepperte arabische Popmusik, die technoide Basslinie des Songs war aufpeitschend, dennoch lag ein ferner Schmerz in dem Lied, den sie nicht verstand. So wenig wie sie das ganze Land begriff, durch das sie gerade fuhr. Oder musste man von zwei Ländern sprechen? Israel. Und das, was einmal Palästina gewesen war oder noch immer war oder eines Tages werden sollte. Was wusste sie schon über Israel und Palästina? Sie schaute Nachrichten, las ab und zu Zeitung. Israel, das wusste sie, war ein Staat, zu dem man eine Meinung haben sollte, oder eine
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