Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens
ersten Stock winkt mit panischen Gebärden eine alte Frau eine Passantin heran: Können Sie mir sagen, welcher Tag heute ist? Dienstag, ruft die Passantin nach oben, Dienstag, Sechzehnuhrfünfunddreißig! So spät schon, wundert sich die Alte, da müsste ich doch längst im Bett sein. Alleinsein macht wunderlich, Einsamkeit löscht die Regeln, die nur im Zusammenleben gebraucht werden.
Mitunter wird der Homo senex von Demenz und Alzheimer befallen. Er sucht nach sich und findet sichnicht. Die Erinnerung, sein Trost und Trutz, hat ihn verlassen; wo sie war, ist Leere, sein Ich ist ihm vorausgegangen ins Nirgendwo. Er hat das Leben verloren irgendwie, irgendwo und weiß nicht wo. Der alte Herr im ICE redet laut und wirr vor sich hin. Er ist sorgfältig gekleidet. Olivgrüne Cargohose, kariertes Hemd, teure Schuhe, da muss jemand sein, der für ihn sorgt. Der Mann, so Mitte sechzig, hat ein markantes, gebräuntes Gesicht und helle Augen, das graue, längere Haar – ein Alt-Achtundsechziger? – ist merkwürdig stumpf, es wurde offenbar nicht von einer Fachkraft geschnitten. Der Mann trägt ein rosa Basecap mit Telekomwerbung, was seiner Erscheinung etwas Kindisches verpasst. Seine ins Weite greifenden Gesten deuten räumliche Visionen an, er könnte mal Architekt gewesen sein. Er redet zu allen und zu niemand. Was will der Mann? fragt die Vierjährige auf dem Platz ihm gegenüber ihre Mutter. Das kleine Mädchen spürt das von der Norm Abweichende, sie fragt noch einmal: Mama, was will der Mann? Kurz vor dem nächsten Halt sagt der alte Herr höflich und klar zu der mit Gepäck beladenen Mutter: Soll ich Ihnen beim Aussteigen behilflich sein?
An die Stelle von Mutter und Kind setzt sich nun eine dunkelhaarige junge Frau. Sie lächelt zu den Reden des alten Mannes und trinkt von seinem Kaffee, den er ihr aus einer Thermosflasche anbietet. Sie isst von dem Kuchen, den er auspackt und für sie abschneidet, sie zeigt Respekt vor dem Verwirrten, in ihrem Gesicht ist freundliche Nachsicht für eine menschliche Befindlichkeit, die von ihr so weit entfernt scheint wie Grönland vom Südpol.
Zuweilen verliert der Homo senex den Sinn für Angemessenheit,auch, wenn er nicht an Demenz leidet. In einem Asia-Imbiss erscheint eine ältere Frau in einem kurzen schwarzen Anorak und schwarzen Leggins. Hat sie ihren Rock vergessen, oder will sie ihre immer noch schönen Beine zeigen? Die vietnamesische Köchin spricht sie mit Vornamen an: Rita. Lovely Rita, meter maid, hast du nicht mitgekriegt, dass Zeit vergangen ist, seit die Beatles deinen Namen berühmt gemacht haben, hast du es vergessen, weil deine Beine die Zeit unbeschadet überstanden haben und Paul McCartney immer noch singt?
Rita ist die charmante Variante der Unangemessenheit, der männliche Homo senex zeigt sich öfter weitaus ungenierter. Der breitschultrige alte Mann mit der Schiebermütze wirkt weder betrunken noch verwirrt, sondern durchaus beieinander, als er sich an einem milden Nachmittag mitten auf der Schönhauser Allee erleichtert. Nach Vollzug geht er in eine nahe Bäckerei, setzt sich mit einer Tasse Kaffee und einem Apfelstrudel an einen Tisch auf der Straße und spricht nach Verzehr mit Wohlbehagen vor sich hin: Inne DDR war besser. Allerdings hätte ihm da passieren können, dass ein Volkspolizist fünf Mark Strafgebühr »wegen Verunreinigung öffentlicher Straßen und Plätze« von ihm verlangt; Freiheit hat viele Gesichter. Die Freiheiten, die sich manche Alte rausnehmen, wirken trotzig: Wenn ich schon alt sein muss, möchte ich wenigstens tun, was sich nicht gehört.
Der Homo senex ist wissbegierig. Als Seniorstudent nimmt er den regulären Studenten die besten Plätze weg und hält die universitären Abläufe mit ausschweifenden Zeitzeugenmonologen auf. Das, denkt er, ist sein gutes Recht, er zahlt schließlich Studiengebühren,außerdem weiß er es besser, seine Erfahrungen sind hart erlebt, das eigene Leben ist sein stärkstes historisches Argument. Nur wer alt werde, so Schopenhauer, erhalte eine vollständige Vorstellung vom Leben, indem er es in seiner Ganzheit, nämlich nicht nur von der Eingangs-, sondern auch von der Ausgangsseite übersehen könne. Dieses Privileg macht den Homo senex einsamer, als er ohnehin schon ist, er fühlt, wie alles enden wird.
Falls er wohlhabend ist, kann er seiner Einsamkeit eine Art müder Eleganz verleihen, wie Frau Burkert im Café Roseneck. Die hoch aufgeschossene Dame mit den dünnen, erstaunten Augenbrauen
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