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Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens

Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens

Titel: Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Voigt
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isst Lachs auf grünen Bandnudeln und trinkt in kleinen Schlucken aus ihrem Rotweinglas. Sie wird nächstes Jahr achtzig und ist seit fünf Jahren Witwe. Zweiundfünfzig Jahre waren sie zusammen, sie und ihr Mann. Sie sind Cousin und Cousine gewesen, Kinder keine. Frau Burkert macht einen sachlichen Eindruck, Persönliches scheint für sie keine Rolle mehr zu spielen, sie geht im Allgemeinen auf. Als hätte sie ihre individuelle Existenz sortiert, ordentlich zusammengelegt und die gepackten Koffer voraus geschickt ins Nirwana. Auf diese Weise ist sie ein schwereloses Wesen, befreit vom Gepäck persönlichen Geschicks. Ihre Strategie gegen die Einsamkeit: Wer sich nicht mehr als Einzelner begreift, fühlt auch nicht mehr, dass er allein ist. Die wahre Einsamkeit, sagt sie, ist eine andere: Die Jüngeren wollen nichts mehr von der Vergangenheit wissen, nichts mehr von dem, was ich nicht vergessen kann. Die jüdische Mutter, die im Untergrund lebte und ihrem Baby Schlafmittel gab, damit sein Schreien sie nicht verraten konnte. Diese Angst davor, zu helfen,die Hilflosigkeit. Die antisemitischen Vorurteile sind zurück, sagt sie, man hört sie versteckt in allerlei Bemerkungen, man möchte es nicht glauben, aber es ist so. Seit vier Jahren besucht Frau Burkert Philosophievorlesungen an der Freien Universität: Ich versuche, die Leere zu meistern. Sie erwähnt einen jungen Studenten, der immer einen Platz im Hörsaal für sie frei halte, sie lächelt mit schmalen Augen im hageren Gesicht: Enkelkinder habe ich ja nicht.
    Der Homo senex unterstützt seine Kinder und Enkel, es geht ihnen schlechter als ihm, findet er, sie müssen aus ihrem Leben was machen, das hat er hinter sich. Regelmäßig lässt er ihnen Geld zukommen und spart, damit sie erben. Genügsam lebt er bis zum Schluss. Seine Beerdigung soll die Nachkommen möglichst wenig kosten. Deshalb unternimmt er Kaffeereisen nach Tschechien zwecks Preisvergleich der konkurrierenden Krematorien. Er starrt in die preisgünstigen tschechischen Verbrennungsöfen und sieht seine Zukunft lichterloh, ein Freudenfeuer, wenn er an den Preis denkt.
    Der Homo senex hat weniger Angst vor dem Tod als vor dem Altersheim, denn dort, fürchtet er, findet die endgültige Enteignung seines Lebens statt. Auf Spaziergängen wirft er scheele Seitenblicke auf die Fenster von Altenheimen und freut sich, dass er nach Hause gehen kann, zu seinen Büchern, seinem Teetisch und seinem Baum vorm Fenster. Da! Ein Plattenbau mit uniformen Fenstern und Gardinen. Ein Fenster steht offen, ein Spalt nur, der Vorhang weht schwach. Von gegenüber, aus dem Starbucks-Café, siehst du ein Bettgestell aus weißem Eisen, einen Arm, der schlaff herunter hängt, den durchsichtigen Urinbeutel – es ist die Pflegestation des Altenheims Pro seniore vis-à-visder Hackeschen Höfe in Berlin. Was für eine Adresse! Drastische Mahnung an die Vergänglichkeit im Trubel der Moderne. »Der Tod muss abgeschafft werden«, steht groß an einer Hauswand. Im Pro seniore wohnen alte Großstädter, die nicht aus der Welt sein wollen, solange sie noch da sind. Frau Reich ist achtundachtzig. Die schönste Zeit ihres Lebens? Als sie, die gelernte Anwaltsgehilfin, nach dreißig Jahren in Familie, wieder arbeiten gehen konnte, als Stenotypistin beim Diplomatenamt in der Grotewohlstraße. Wie sie da morgens Unter den Linden lang spazierte zum Dienst, in frischer, weißer Bluse und engem Rock, selbst geschneidert. Sie hat immer parterre gelebt, jetzt ist sie in eine Wohnung im sechsten Stock von Pro seniore gezogen: Ich kann endlich Sonne, Mond und Sterne sehen. Das Mahagonibuffet, das sie in die Ehe einbrachte, hat sie in ihr Pro-seniore-Zimmer gestellt. Frau Reich ist glücklich. Vielleicht, sagt sie, ist es ja wirklich so, wie die Philosophen sagen, dass der Jugend eine gewisse Melancholie, dem Alter eine gewisse Heiterkeit eigen ist.
    Der Homo senex hegt mitunter absonderliche Vorstellungen von der Welt; vielleicht treffen sie zu, vielleicht auch nicht. Ich brauche kein Geld, sagt Herr Fülsenstein und hält seine Tasse hoch: Diesen Kaffee zum Beispiel muss ich nicht bezahlen. Ich gebe es auf meine Art zurück, alles ein Tausch, alles ein Kosmos. Der alte Herr trägt eine Lederjacke mit vielen Reißverschlüssen, sein schütteres Haar endet in einem Nackenschwänzchen, der graue Bart ist ab Kinnhöhe zu einem dünnen Zopf geflochten, die Augen leuchten babyblau. Herr Fülsenstein redet gern und viel, über Gott und die Welt und das

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