Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens
Sonnensystem und dieChaostheorie und König Salomon und Ying und Yang und Newton und Descartes. Weil ja alles mit allem zusammenhängt. Ich tue extremste Dinge, sagt Fülsenstein, ich sammle Haftbefehle und beschlagnahme Güterwaggons. Er teilt mit, dass er jede Nacht um drei Uhr Nachrichten hört, die am Tage nicht mehr auftauchen. Der Mensch ist das Gehirn vom Kosmos, sagt er. Die Bäckersfrau habe ihm erzählt, dass sie nur noch Teilzeit arbeite, damit sie mehr Zeit für ihr Gehirn habe. Wir sind alle göttlich, sagt Fülsenstein fröhlich.
Der Homo senex leidet an nichts so sehr wie an Einsamkeit. Gut dran sind jene, die sich einer Sache außer sich selber widmen. Schwebfliegen zum Beispiel. Herr Sjöberg, Biologe und Schriftsteller aus Schweden, sechsundfünfzig Jahre alt, widmet sich Fliegen, schon als Kind sammelte er Insekten. Seine Sammlerleidenschaft wird ihn wohl bis ans Lebensende begleiten. In einer chaotischen Welt, sagte er, verschaffe ihm das Sammeln Kontrolle über ein bestimmtes Gebiet, das mache ihn glücklich. Er fühlt sich den Schwebfliegen verbunden, weil sie, so hat er rausgefunden, fortwährend vorgeben, jemand anderes zu sein. Schwebfliegen sind Verwandlungskünstler, Schauspieler oder Spione, mal sehen sie aus wie eine Wespe, mal wie eine Honigbiene, mal wie eine Bremse, solche Camouflage reizt ihn. Herr Sjöberg beobachtet sie lange und genau, dann jagt er sie mit einem Fangnetz und macht sie dingfest. Der Fangaugenblick, so der Sammler, der auch Schriftsteller ist, sei ein »Panthersprung mit hoch erhobenem Kescher«. Er fährt auf Schwebfliegenkongresse und tauscht sich mit anderen Liebhabern aus. Daran wird ihn kaum je einer hindern können, als Schwebfliegenspezialist ist er unkündbar, dieFliegen werden ihn niemals nach seinem Alter fragen. Beim Sammeln vergisst er alles andere, wenn er einsam wäre, würde er bei den Schwebfliegen auch seine Einsamkeit vergessen.
Die Seiltänzerin im Paillettenröckchen, der waghalsige Artist am Trapez, Zauberer, Jongleure, Dompteure. Die Magie der Manege – ein Kindertraum, da mitzumachen. Ein Zirkus auf der Insel Sylt sucht Nachwuchsartisten zwischen sechzig und achtzig. Nicht Sensation, sondern Poesie ist gefragt. »Reife Leistung« heißt die Vorstellung, die reife Leistung wird durch Training erreicht, ein professioneller Zirkusdirektor bildet die alten Artistenschüler aus, eine unvorstellbare Spätvorstellung von Fähigkeiten. In der Manege treffen sich Kindheit und Alter. Ich kann alles, dachte das Kind. So was kann ich nicht, meinte der Erwachsene. Sieh da, ich kann ja doch alles, wundern sich die späten Zirkuskünstler. Im bunten Licht der Träume balanciert der Verwaltungsangestellte auf dem Drahtseil, läuft der Ingenieur auf Stelzen, betritt die Amtsrichterin als Clown die Arena; alte Clowns können komischer sein als junge, sie haben mehr Lebenserfahrung. Einsamkeit kommt nicht auf, wenn man trainiert, probiert und triumphiert. Es gibt ein gemeinsames Ziel: die nächste Vorstellung.
Fußball geht auch. Auf Fußballplätzen erlebt der Homo senex Höhepunkte und Gemeinschaft. Der alte Mann kann seine schwindenden Kräfte kompensieren, indem er auf die Jungen und Starken guckt, in ihnen findet er ein Stück von sich. Wenn er im Stadion oder vor dem Fernseher sitzt und schreit: Hau ihn rein, Müller! lebt seine Begeisterungsfähigkeit auf, er ist nicht allein. Unter den Fans des Fußballvereins FC EisernUnion ist eine ältere Frau, die sie Olle Oma nennen. In Berlin spricht man so: Olle Mike, Olle Sven, Olle Marcel. Olle Oma. Keine Altersdiskriminierung, eher Zärtlichkeit.
Schwer vorstellbar, dass die alte Dame mit der Pferdeschwanzfrisur im Starbucks-Café sich jemals für Fußball begeisterte, eher schaut sie sich Germany’s Next Topmodel an. Sie wird jeden Tag von ihrem Sohn hergebracht. Vermutlich wohnt sie im Altersheim gegenüber und will doch dabei sein – das Café mit den vielen jungen Leuten vor ihren Laptops ist für sie das Leben. Sie frühstückt hier, allein, mit einem arroganten Ausdruck in dem spitzen kleinen Gesicht, der vermuten lässt, dass sie ihr Leben lang gewohnt war, begehrt und bewundert zu werden. Man kann es noch sehen, dass sie mal eine süße Schönheit gewesen ist, ein Schmollmundmädchen wie Brigitte Bardot; in ihrem Gesicht findet eine Art zierlicher Verfall statt. Nach zwei Stunden holt der Sohn sie wieder ab. Er wirkt genervt, die Mutter scheint immer noch Befehlsgewalt über ihn zu haben. Dass
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