Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens
unterm Arm lief er durch die Sonneberger Straßen und wollte provozieren. Sein Freund und er waren von dem Wahn besessen, Künstler zu sein. Später mieteten sich die beiden Dekolehrlinge ein eigenes Atelier, Weimar, Belvedere 13, für zwölf Mark Miete im Monat, da haben sie sich einen Deko-Kamin aus Pappe reingestellt, sollte künstlerisch wirken.
Am Wochenende gingen sie »nymphen«, die Bahnhofstraße rauf und runter. Man traf sich im Centralhotel, dem ersten Haus am Platze. »In einer kleinen Schenke, dicht am Hafen, da saßen wir zwei / Und als sich unsre Blicke zärtlich trafen / da sagtest du mir: Die Luft ist so mild, ein herrliches Bild«. Darf ich bitten? Darf ich Sie nach Hause begleiten? Sie wohnte in Mengersgereuth-Hämmern, genannt Menhäm, fünf Kilometer entfernt. Nacht, Nebel, Nieselregen. Berg rauf, Haustür – kann ich mit hoch? Erst nach der Verlobung. Peng. Tür zu. Der Jüngling stand in Menhäm im Regen.Am nächsten Tag ging er zum Fleischer, hundert Gramm Leberwurst kaufen. Da stand sie, hinterm Tresen: Die Leberwurst schenke ich dir, weil du so nett warst. Hundert Gramm Leberwurst für zehn Kilometer im Nieselregen. Aber da war zum Glück noch Brigitte Blechschmidt, Änderungsschneiderin im Haus der Dame, hübsch, rundlich, Babyspeck. Sie hat ihn verführt, im Gebüsch, da war er einundzwanzig.
Vorigen Sommer ist er mit Roswitha, seiner Frau, in Liebenstädt gewesen, eine Erinnerungsreise. Hier, im Warthegau, hatte er seine Kindheit verbracht, in Liebenstädt, heute Mirosław, Polen. Sie haben sich alles angesehen, was Manfred damals erlebt hat. Manfredchen, was willste essen? – das polnische Dienstmädchen hatte den Kleinen verwöhnt, Maria hieß sie. Sie stellte ihm Sträußchen mit Blaubeeren, die sie im Wald gepflückt hatte, ans Bett, zum Abessen. Einer hat sich mal an seine Maria rangemacht. Manfredchen war fünf, er wollte den Rivalen mit einer Eierhandgranate in die Luft sprengen, das klappte nicht. Manchmal ging sie mit Manfredchen auf den Friedhof, heimlich, denn das war für Polen verboten. Maria konnte wunderbare Marzipankartoffeln machen; wenn sie ihm keine machen wollte, drohte er: Ich sag es meinem Vater, dass du mit mir auf dem Friedhof warst.
Er erzählt sie gern, die Geschichten erster Lieben und Liebeleien, da wird man schon beim Erzählen jünger. Mit vierzehn ist er jeden Mittwochnachmittag zu Annemarie Belert gefahren. Die hatte einen blonden Zopfkranz und trug einen Pullover mit Zopfmuster, unter dem sich zart was wölbte. Sie war beim Turnen vom Barren gefallen und lag lange in Gips. Ein einziger Kuss ereignete sich zwischen ihnen in all den Wochenseiner Krankenbesuche, er hat den Kuss nie vergessen.
Graf Kiedorf, so nennt er sich, ähnelt dem Dekolehrling auf dem Jugendfoto kaum, vielleicht ein Widerschein in den Augen, die klein und dunkel sind, vielleicht die Kontur seiner Gestalt, die immer noch schmal ist. Manfred ist ja so begabt, sagt seine Frau, die er Gräfin nennt, Manfred ist unheimlich tätig, er schreibt und zeichnet und modelliert, er kann alles. Und er hat seine Miniaturschlösser zu Ende gebaut, fügt die Gräfin stolz hinzu, denn es ist ihr Verdienst, dass er sich im Alter diszipliniert hat. Wie hat sie gelitten an seinen Eskapaden und Sauftouren all die Jahre! Aber jetzt ist es bestätigt: Graf Kiedorf ist nicht nur ein wahrer Künstler, er ist auch anerkannt: Ich kann jetzt zum Zahnarzt gehen, wann immer ich will, ich kann mir einen Rollator leisten und Schladerer Kirschwasser, ohne nach dem Preis zu fragen. Im Alter wird die verkorkste Jugend nachgeholt!
Die Heidecksburg in Rudolstadt hat die Rokoko-Reiche Dyonien und Pelarien angekauft. Die Jugendfreunde Bätz und Kiedorf haben ein halbes Jahrhundert mit wundersamer Spiellust an ihren Sehnsuchtsorten gearbeitet, ohne je einen Pfennig daran zu verdienen. Die Miniatur einer märchenhaften Monarchie mitten in der Deutschen Demokratischen Republik, eine feudale Gegenwelt aus Pappe, Gips und Draht im Maßstab 1: 50 war es ihnen wert, niemand wusste davon. Flucht in die Phantasie.
Kiedorf schenkt sich einen Cognac ein und hält sich seine eigene Laudatio, er trompetet, deklamiert und triumphiert: Früher war ich ein Taugenichts, ein Nichtsnutz war ich, heute bin ich Chevalier. Wennich in Rudolstadt über den Marktplatz gehe, grüßen mich die Leute. Eine Kneipe dort heißt »Kiedorf«, da hängen meine Zeichnungen. Und in der Heidecksburg sind unsere Schlösser ausgestellt, eine
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