Spatz mit Familienanschluß
nichts.«
Während Herr Stadler vorne weitersprach, piekste Lucas Markus ins Bein. »Ich wollte nur sagen, das mit dem >Fein< hast du fein gemacht.«
»Findest du?«
»Ich sag es dir doch.«
Es wurde ein schönes Schuljahr für Markus. Schon am nächsten Tag mußte Lucas nicht mit ihm aus den Federn, er konnte ruhig weiterschlafen, dann durchs offene Fenster hinaus auf den hohen Fliederstrauch flattern, um zunächst ein paarmal tief Luft zu holen. Danach führte ihn die erste Flugroute des Tages ins Venezia, wo es schon nach Capuccino und Espresso duftete. Die Eingangstür stand offen, und Altamura konnte so gut wie unbemerkt in das Lokal hineinhüpfen und hier die wohlschmeckenden flockigzarten Krümelchen vom Blätterteiggebäck aufpicken.
Zudem konnte er zuhören, wie Carlo, der Besitzer der Gelateria, mit einigen seiner Gäste Italienisch sprach. Hatte Lucas Glück, kam die Putzfrau und stellte alle Stühle mit den Beinen nach oben auf den Tisch, fegte und wischte und sang dabei ohne Unterbrechung italienische Lieder. In ihrem Kopf mußten unzählige Lieder stecken, denn kaum hatte sie eines beendet, fing sie schon mit dem anderen an, und sie sang immer alle Strophen.
Die Frau hieß Marietta Mascarpone und war immer gut gelaunt.
»He!« rief sie, wenn sie Altamura entdeckte. »Da ist ja wieder dieser süße, freche Spatz von neulich! Wo hab ich bloß das Waffelstückchen hingelegt?« Sie fand es und legte es Lucas auf eine Marmortischplatte, pfiff ihn herbei, und schon sang sie weiter.
Gegen Unterrichtsende fand sich Lucas dann bei der Schule von Markus ein, inspizierte den Pausenhof und wunderte sich, was Schulkinder so alles in der Pause wegwarfen. Erschien dann Markus endlich im Schul-tor, tschilpte er aus Leibeskräften und bestürmte ihn mit Fragen.
»Was war heute los?« fragte er. »Los, erzähl mir was, bist du drangekommen?«
»Drangekommen nicht und sonst...« Markus überlegte. »Sonst war nichts.«
»Aber irgend etwas muß doch gewesen sein. Ich erlebe jeden Tag eine Menge spannender Dinge.«
»Ja, aber du gehst auch nicht in die Schule. — Da fällt mir etwas ein«, rief Markus. »Frau Weise hat ihr Baby, ein Mädchen. Big Black, der Mathelehrer, hat es uns gesagt. Wir mußten gleich den Verbrauch an Windelhöschen bis zum ersten Geburtstag ausrechnen. Es sind weit über tausend.«
Lucas war etwas enttäuscht, er hatte sich gewichtigere Informationen erhofft. Er wollte deshalb von der Auf-räumefrau Marietta Mascarpone und ihren Liedern erzählen, kam aber nicht dazu, weil sie gerade um eine Hausecke bogen und in der Nebenstraße einen kleineren Auflauf bemerkten. Früher hätte Markus auf der Stelle kehrtgemacht und wäre die andere Straße weitergegangen, jetzt näherte er sich der Gruppe. Sie bestand zum kleineren Teil aus Schülern, die sich in der Wolle hatten, während der größere Teil sich nur als Zuschauer betätigte.
Als Markus die Gruppe erreicht und sich durch die Zuschauer gedrängt hatte, traute er seinen Augen nicht. Da stand Kathrin mit einer Klassenkameradin an eine Gartenmauer gedrängt, und beide wehrten sich gegen zwei Jungen, die sie an den Haaren ziehen wollten. Wie automatisch ließ Markus seine Schultasche zu Boden fallen, befahl Lucas, auf sie zu achten, und war schon mitten im Schlachtgetümmel. Er konnte nicht genau feststellen, was um ihn herum ablief, das einzige, was er wirklich festhielt, war das buntkarierte Hemd des Kerls, der Kathrin gerade wieder am Haarschopf packen wollte. Er bekam einen Schlag gegen die Stirn und dann einen gegen die unteren Schneidezähne, der diese zwar nicht wackeln, aber dafür die Unterlippe anschwellen ließ. Das hinderte ihn nicht, einen Fuß samt Schuh, der ihn gerade treten wollte, aufzufangen und hochzureißen. Kaum war ihm dies gelungen, schob er den Fuß vor sich hin, was den Gegner zu komischen Hüpfern auf einem Bein und noch dazu im Rückwärtsgang zwang. Dies schienen die Zuschauer lustig zu finden, vor allem, weil der Hüpfende nun vollauf damit beschäftigt war, sein Gleichgewicht zu halten. Als Markus jedoch schneller wurde, konnte er mit seinen Hüpfern nicht mithalten und fiel hin. »Gibst du auf?« fragte Markus eiskalt wie der Held aus einem Western.
Als der am Boden Liegende diese Frage mit einem »Ja« beantwortete, ließ er von ihm ab und befühlte seine Unterlippe. Sie schien ein bißchen aufgeplatzt zu sein. Er hatte Geschmack von Blut im Mund.
»Au«, sagte Kathrin und musterte seinen Mund. »Du
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