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Spaziergang am Meer: Einsichten einer unkonventionellen Frau

Spaziergang am Meer: Einsichten einer unkonventionellen Frau

Titel: Spaziergang am Meer: Einsichten einer unkonventionellen Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joan Anderson , Susanne Aeckerle
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wie nachlassende Kraft, der Androhung, ins Pflegeheim gesteckt und aus der Gesellschaft entfernt zu werden – alles Themen und Situationen, die sie hat vermeiden können.
    Ich sitze neben einer Siegerin. Sie kam, sie sah und hat sicherlich gesiegt. Ihre Worte wurden ebenso geschätzt, wie ihre Ideen und Ideale. Da sie fähig war, das größere Bild zu erspüren und über ihre Grenzen hinauszuschauen, hat sie jetzt mehr als nur überlebt. Sie blüht auf.
    Wir verlassen die Stadt, müde von der Fahrt, aber trotzdem vollkommen zufrieden mit diesem äußerst triumphalen Tag.

|177| Ein Lebenszyklus ist vollendet
    Joan ist nach eigenem Eingeständnis gebrechlich und alt geworden. Ihr Körper macht ihr zunehmend Probleme: Ihre vor längerer Zeit gebrochene Hüfte läßt sie im Stich, ihr Herz wird schwach und, was am schlimmsten ist, ihr nachlassendes Kurzzeitgedächtnis sorgt für häufige Verwirrung. Ein Zusammentreffen mehrerer Ereignisse hat sie schließlich zum Umzug in eine Einrichtung für betreutes Wohnen am Rande des Ortes gezwungen. Obwohl sie dort am Ende des Flurs ein großes Studioapartment mit einem weiten Blick auf den Rasen und den Wald dahinter bewohnt, hat der Verlust ihrer Autonomie und der Möglichkeit, ihren Zeitablauf selbst zu bestimmen, seinen Tribut gefordert.
    Zum Glück ist sie mit der Routine solcher Einrichtungen vertraut, sie war selbst schon in verschiedenen Rehakliniken, ganz zu schweigen von Eriks langem Aufenthalt im Pflegeheim. Sie hat gelernt, sie sich zunutze zu machen, vor allem durch zusätzliche Zeit im Fitneßraum. »Es geht darum, seine Kapazitäten auszutesten und sich auf die nächste Ebene vorzubereiten, Liebes. Das Alter verlangt von uns, daß wir uns auf früher gesammelte Erfahrungen stützen. Ich werde nie vergessen, wie ich als einsames Kind wenig mehr als einen Körper hatte, auf den ich mich verlassen konnte. Da ich mein ganzes Leben lang geübt habe, unabhängig zu sein, kann ich mich jetzt auf diesen Vorzug stützen.«
    Heute ist ihr vierundneunzigster Geburtstag, und sie ist lebhaft wie eh und je. Eine Feier ist geplant, und Joan wird jedes Bedauern darüber, daß sie ihr Haus verlassen mußte, zugunsten |178| der Freude beiseiteschieben, die ihr das Zusammensein mit all den Freunden sicherlich bereiten wird.
    Als ich zum Aufenthaltsraum komme, kann ich an dem Getöse erkennen, daß sich hier nicht nur ein paar Leute und auch keine Gruppe alter Damen versammelt hat. Hinter den Flügeltüren finde ich eine Vielzahl verschiedenartiger Menschen   – Professoren aus Harvard, junge Familien, Künstler, Ärzte, Gerontologen, Familienmitglieder. Ich kenne nur wenige davon – jene, die sie in letzter Zeit besucht haben   –, daher bin ich ganz zufrieden damit, mich in eine bequeme Ecke zurückzuziehen und zu versuchen, all die mit ihr verwobenen Ideen und die Menschen auseinanderzudröseln, die hier nicht nur einen Geburtstag feiern, sondern ihre Verbundenheit.
    Ich habe so etwas noch nie erlebt. Es ist offensichtlich, daß es sich um gleichgesinnte Seelen handelt, die meisten von ihnen sind auf irgendeine Weise von Joan gezeichnet oder verändert, und jeder möchte noch mehr aus ihrem frechen Zwinkern, beschwingten Tonfall und ihrer Verspieltheit in sich aufnehmen. Obwohl ihr Lebensfaden dünner wird, wirkt sie, als würde sie die Mitte ihres Lebens feiern – bekleidet mit einem lila T-Shirt , das für einen 1 2-Kilometer -Lauf wirbt, schwarzer Weste und schwarzen Hosen, kein Schmuck, aber dafür ein Lächeln, das mit der Ankunft jedes neuen Gastes breiter wird. Sie beweist weiterhin, daß das Alter sanft zu jenen kommt, die ihre eigenen Regeln aufgestellt und sich an ihre Lektionen gehalten haben.
    »Du bist da!« sagt sie zu einem Gratulant und gibt ihm das Gefühl, er sei der einzige auf diesem Fest. »Wie hast du es hierher geschafft? Du hast deine Lesereise wohl gerade beendet? Ist das nicht ein Spaß? Du mußt unbedingt mit Richard reden. Ihr scheint über dasselbe Thema zu forschen. Kannst du hinterher noch dableiben? Vielleicht können wir uns dann richtig unterhalten. Oh, was für ein schöner Tag. Sind Geburtstage nicht wunderbar?«
    |179| Sie läuft los, von einem Gast zum anderen, ist in ihrer aufnahmebereitesten Stimmung, will alles umfassen, läßt keine Hemmungen aufkommen. »Man muß empfänglich sein«, hat sie mir mal gesagt. »Sonst verdirbt man das Geschenk.«
    »Ich fühle mich so leicht wie eine Feder«, höre ich sie verkünden. »Hier ist

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